„Sex sells“ – Versuch einer soziologischen Deutung

 

"sex sells" - © PC-Montage: Alfred Rhomberg

 

Wir beklagen die Prüderie früherer Jahrhunderte, wundern uns über die Freizügigkeit römischer Fresken (nicht nur in Pompeji), kennen die subtile Erotik des Decamerone von Giovanni Boccaccio,  die deutlich freizügigere Erotik französischer Schriftsteller des 18. und 19. Jahrhunderts und bilden uns heute ein, dass uns in puncto „Sex“ so ziemlich alles bekannt ist. Die „neue Aufklärung“ begann auf diesem Gebiet (nach der anfangs umstrittenen Triebtheorie von Sigmund Freud) ab der 40-iger Jahre mit den Arbeiten von Alfred Charles Kinsey (Kinsey-Report) und ab 1950 durch die Arbeiten der US-Wissenschaftler und „Sexpioniere“ Masters und Johnson, Arbeiten die in Europa ab ca. 1960 bekannt wurden. In den Kinos gab es die Aufklärungsfilme des Journalisten und Filmproduzenten Oswald Kolle und die Entwicklung der Sexualtherapie durch Helen Singer Kaplan. In der Gegenwart sind die „neuen“ sexuellen Orientierungen (abweichende Sexualpraktiken, sexuelle Selbstbestimmung) zu Hauptthemata geworden. Es sollte uns – bis hin zur Pornographie – eigentlich nichts mehr neu sein – und doch:

 

Warum überschüttet uns die Fernseh- und Plakatwerbung noch immer (oder sogar zunehmend) mit erotischer Werbung, selbst für Produkte, die mit Erotik nicht direkt in Zusammenhang gebracht werden können (Autos, Möbel, Staubsauger etc.) ?

Etwas, das so selbstverständlich geworden ist wie „Sex“, sollte doch niemanden mehr dazu aufmuntern, ein „erotisch“ beworbenes Produkt zu kaufen: -  aber wir würden wohl keine Produkte nur deswegen kaufen, weil sie völlig sachlich mit Beschreibung der Vorteile des Produktes beworben werden!

 

Die Werbeindustrie sagt dazu: „SEX SELLS"! – nur warum?

 

Als Pharmaforscher weiß man, dass sich ein Krebsmittel nicht über erotische Werbung besser verkauft, wohl aber ein Mittel zur Heilung von Nagelpilz – und wieder die Frage:

 

Warum?

 

Weil die Grundmuster der gegenseitigen sexuellen Attraktion (visuelle Reize, Geruchsreize, Gefühle etc.) offenbar in unseren Genen so verankert sind, dass sie durch vorübergehende kulturelle bzw. soziologisch bedingte Repressionen (z.B. Prüderie) nicht vollständig verdrängt werden können. Im Gegenteil – es hat den Anschein, dass frühere Kulturepochen und auch moderne Länder in denen sexuelle Repression vorherrschte bzw. noch immer vorherrscht, besonders anfällig dafür sind, verdrängte sexuelle Anlagen oft in ganz anderer Form auszuleben (u.a. mit dem Hang zum Faschismus und Radikalismus).

 

Führt die Reizüberflutung zu Abstumpfung oder ständiger Steigerung?

 

Anfangs muss ein Reiz ständig gesteigert werden, um noch zu einer Steigerung von Sinnesempfindungen zu führen. Das heute fast vergessene Weber-Fechner Gesetz besagt, dass Reize überproportional und nicht linear gesteigert werden müssen, um wahrgenommen zu werden.

 

Der Physiologe Ernst Heinrich Weber bemerkte 1834, dass ein Sinnesorgan erst ab einer bestimmten Intensitätssteigerung (nach einer logarithmischen Abhängigkeit) eine Veränderung registriert. Der Physiker und Begründer der Psychophysik Gustav Heinrich Fechner (1801-1887) erweiterte das Weber`sche Gesetz durch experimentelle Messungen anhand des Tastsinnes, der Erkennung von Helligkeit oder von Geschmackssteigerungen. Die genannten Sinnesempfindungen unterscheiden sich zwar etwas bezüglich des auslösenden zusätzlichen Reizes, entsprechen jedoch insgesamt ungefähr einer logarithmischen Funktion.

 

Der Autor dieses Beitrages glaubt, dass sich dieses Gesetz auch für die Erklärung von immer „verrückter“ werdenden Ideen im Kunstbetrieb anwenden lässt (1) und ist überzeugt, dass dies auch für sexuelle Empfindungssteigerungen (wie für alle Sinnesreize) gilt. Im Gegensatz zur Kunst, in der es aus Sicht der KünstlerInnen scheinbar kein Ende an „Kreativität“ gibt (was zu bezweifeln ist), lassen sich beim Ausleben der Sexualität körperliche Gegebenheiten nicht beliebig steigern. Eine Steigerung ist durch bildliche (erotische) Vorstellungen und unübliche Sexpraktiken vielleicht noch etwas möglich (vergl. a. mein Beitrag „tabu(los) - sexuelle Tabus und Perversion“) - ab einem bestimmten Punkt kommt es jedoch zur Abstumpfung. Das wird sich auch in der Werbebranche auswirken, wobei schon jetzt gewisse (relativ harmlose) Grenzen in manchen Ländern nicht überschritten werden können, weil allzu freizügig gestaltete Werbung (u.a. auch in den USA) auf Widerstand breiter Bevölkerungsschichten stößt oder zumindest als „sexistisch“ gesehen wird.

 

Insgesamt hat die sexuelle Revolution inzwischen zu einer gewissen Ratlosigkeit geführt. Wenn man Facebook-Einträge nach dem Muster findet:

 

      „hallo leute – habe noch nie SM gemacht – ist das normal?“,

 

dann ist die Frage sicher erlaubt, ob die sexuelle Befreiung uns wirklich befreit, oder nicht zu einer Minderung geistiger Urteilskraft geführt hat.

 

Die mit dem Woodstock-Rockmusik Festival (1969) eingeleitete sexuelle Libertinage hat auch in Europa (einschließlich der nicht wegzuleugnenden Befreiung der Frauen), zu Wohngemeinschaften, häufigen Partnerwechseln und komplizierten Partnerbeziehungen geführt, deren soziologische Folgen wir noch nicht wirklich abschätzen können, außer dass häufiger Partnerwechsel zu Beziehungslosigkeit führt und Beziehungen zunehmend auf sexuelle Kontakte reduziert werden, wobei wieder die oben angesprochene Abstumpfung im Sinne des Weber-Fechner Gesetzes gilt. 

 

So betrachtet wird die Werbeindustrie statt „Sex sells“ möglicherweise bald nach einem neuen Leitspruch suchen müssen, wobei bezweifelt werden darf, ob der Forderung von Marion Gebhart der Wiener Watchdoggruppe: „man muss weg vom Plakativen, hin zum Reflektierten“ (der Standard, v. 29.12.2013) (2) all zu viel Hoffnung eingeräumt werden darf. Wer die nicht erotik-bezogenen Werbeslogans des öffentlichen Fernsehen betrachtet (vom Privatfernsehen ganz zu schweigen), muss leider feststellen, dass das Weber-Fechner Gesetz hinsichtlich Primitivität und Anspruchslosigkeit offenbar nicht gilt - vielleicht, weil der Logarithmus für Null nicht definiert ist!

 

(7.5.2015)

 

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(1) Wie weit kann Kunst gehen? Das Weber-Fechner Gesetz (Alfred Rhomberg)

http://www.igler-experimente.at/betrachtungen-zur-kunst/wie-weit-kann-kunst-gehen-das-weber-fechner-gesetz/

(2) http://derstandard.at/1381370246756/Zeit-sich-vom-Konzept-Sex-sells-zu-loesen

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