Das Protokoll in Entikon – auf der Suche nach dem Flüchtigen (und andere Entikon-Episoden)

 

 

TEIL I - Einführung

Der Weg nach Entikon - © Alfred Rhomberg

 

 

Entikon ist eine Stadt, die ich nur flüchtig kenne – wobei es triftige Gründe gibt, sie nur flüchtig zu kennen. Genau genommen gibt es die Stadt nur für denjenigen der sie sucht und ich habe sie nur gesucht, weil ich gerne dem Geheimnis des Flüchtigen nachspüre, um es wenigsten für einen kurzen Augenblick ergründet zu haben. Das Unflüchtige zu ergründen wäre Zeitverschwendung – zudem hätte man wegen der Entität der Unflüchtigkeit jederzeit Gelegenheit, dies nachzuholen. Jeder der auf der Suche nach Entikon ist und es gefunden hat, weiß wie viel Geduld es bedarf, Flüchtigem nachzuspüren und, sofern er es gefunden hat, immer Gefahr läuft, nicht verstanden zu werden. Ich habe mich daher entschlossen, das von mir in Entikon unterzeichnete Protokoll – ohne dessen Unterzeichnung man Entikon nicht betreten darf – hier (wenn auch nur auszugsweise) in der Hoffnung zu veröffentlichen, von einigen, gleichfalls dem Flüchtigen Nachspürenden, verstanden zu werden.

 

Gleich nach Betreten des Hoheitsgebietes von Entikon wurde ich noch vor Aufsuchen der Herberge aufgefordert, mich beim "Ministerium für flüchtige Angelegenheiten" zu melden. Ein Staatssekretär begrüßte mich freundlich mit den Worten, „Wanderer kommst Du nach Entikon, so sage, du habest das Flüchtige gesehen“, dann überreichte er mir ein umfangreiches Dokument – es sei eine reine Formsache, dieses Protokoll auszufüllen, ich könne dies im Vorzimmer erledigen. Ich machte mich also sofort an die Arbeit.

 

Die üblichen Eingangsfragen des Protokolls boten keinerlei Schwierigkeiten, so musste ich u.a. erklären, den Präsidenten des Stadtstaates Entikon nicht ermorden und mich nicht terroristisch betätigen zu wollen, ferner nicht mit berauschenden Drogen zu handeln - reine Routinefragen also, wie ich sie in ähnlicher Form vor längerer Zeit schon einmal bei der Einreise in die USA unterschreiben musste. Angaben zu meinem Vorleben waren leicht zu beantworten – nur derjenige der keines hat, tut sich bei der Beantwortung solcher Fragen schwer. Die Frage „Zweck des Aufenthaltes“ glaubte ich mit der Antwort „das Flüchtige zu suchen“ wahrheitsgemäß beantwortet zu haben. Etwas schwieriger war die Beantwortung der Frage: Was bedeutet für Sie der Begriff „Flüchtigkeit“? Hier gäbe es für jeden gebildeten Menschen bekanntlich mehrere Antworten, wobei ich zwei davon wegen der ihnen innewohnenden Banalität sofort ausschloss, nämlich die Flüchtigkeit im Sinne von Volatilität (also dem Verdunsten von Flüssigkeiten) und weiters die beim Arbeiten mit einem Computer unangenehme Eigenschaft, dass sich nicht gespeicherte Informationen nach Unterbrechung der Stromversorgung ins Nichts auflösen. Obwohl? – so banal sind solche Dinge gar nicht, trotzdem entschied ich mich schließlich für die Antwort: „Flüchtigkeit des Glücks“.

Bei allen weiteren Fragen muss man den Stolz der Einwohner verstehen, Einwohner von Entikon zu sein. Wegen des beachtlichen Umfangs des Protokolls kam mir unwillkürlich die Bachkantate BWV 26 „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben…“ in den Sinn.

 

In der Folge seien hier nur vier kleinere Auszüge aus dem Verlauf des Protokolls wiedergegeben:

 

Ich, der am Schluss des Protokolls Genannte gebe hiermit an, nicht zu bereuen, nach dieser Stadt gesucht zu haben (persönliche Anmerkung: da der Wortlaut nicht hieß: „nicht zu bereuen, dass ich die Stadt besucht habe“ konnte ich mich wohl entschließen, die Frage etwas zögernd mit „nein“ zu beantworten).

 

Ich, der Genannte, verpflichte mich aus Gründen, das Wesen des Flüchtigen nicht zu gefährden, alles was ich in Entikon gehört bzw. nicht gehört, gesehen oder nicht gesehen habe, keinesfalls an Dritte weiterzugeben (dazu wieder eine persönliche Anmerkung: da ich meine Leserinnen und Leser nicht als Dritte sondern als „Viele“ auffasse, traue ich mich, Teile des Protokolls hier zu veröffentlichen).

 

Ich, der Genannte verspreche, stets korrekt gekleidet meine Herberge zu verlassen. Was als korrekt zu bezeichnen ist, muss vor Unterschrift des Protokolls auf Seite 41 desselben nachgelesen werden und darf nicht anders, als dort aufgeführt, interpretiert werden.

 

Anmerkung außerhalb des Protokolls: beim Ausfüllen dieses Passus erinnere ich mich an einen Gastwirt in Bozen, der einer nur leicht und mit Turnschuhen bekleideten Gruppe von Touristen den Eintritt seines Lokals mit dem Hinweis verbat, die nächste Turnhalle befände sich ca. 500 m weiter entfernt).

 

Ich, der Genannte verspreche, die Stadt so zu verlassen, wie ich sie vorgefunden habe und bestätige abschließend mit meiner Unterschrift, zu keinerlei Aussagen gezwungen worden zu sein, so wie ich auch versichere, niemandem zu berichten, wo sich Entikon geografisch befindet. Ich versichere ferner, alle Angaben des Protokolls wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet zu haben. (Datum, Unterschrift).

 

Da für das Ausfüllen des Protokolls wegen des Studiums aller Zusatzbemerkungen etwa 25 Stunden erforderlich waren, ein Visum jedoch nur für maximal 24 Stunden ausgestellt wird, ist mein Eindruck von Entikon – wie eingangs angedeutet – allenfalls als flüchtig zu bezeichnen. Sollte ich später aufgrund meines als untadelig zu bezeichnenden Verhaltens in Entikon jemals ein zweites Visum zur Einreise erhalten, würde ich in diesem Falle ausführlicher berichten.

 

Anm.: vielleicht liegt in der Differenz von minus einer Stunde die zu verallgemeinernde Ursache vieler nicht geglückter Begegnungen?

 

P.S. Die Rückkehr in meinen Heimatort gestaltete sich wegen der irreführenden Angabe der Wegetafeln als besonders schwierig und während der längeren Heimfahrt kamen mir unwillkürlich die weiteren Worte der Bachkantate in den Sinn: ....

 

Wie ein Nebel bald entstehet – und auch wieder bald vergehet, – so ist unser Leben, sehet!

 

(23.5.2014 – redigierte Fassung eines Textes aus 2008 in startblatt.net andere Entikon-Episoden siehe weiter unten).

Der Alltag in Entikon (Teil II)

 

Zeit (Salvador Dali), Public Domain

Mühsam schleppt sich der Alltag in Entikon dahin – alle Tage in gleicher Weise. Es gibt dazwischen nur wenige alltagslose Tage, die wie Festtage gefeiert werden – ich weiß bis heute nicht, was diese Tage bedeuten, wer sie eingeführt hat und aus welchem Grunde sie sich von anderen Tagen abheben.

Die EinwohnerInnen in Entikon stehen sehr spät auf, denn je früher man aufsteht, desto eher würde sich der Tag verflüchtigen. Es ist so ähnlich wie mit einem Glas gefüllt mit reinem Alkohol – je länger das Glas offen steht, desto weniger wird man im Verlauf von Stunden darin vorfinden.

Die EinwohnerInnen sind nicht sehr gesprächig, über was sollten sie schon sprechen, wenn ihre Worte ohnehin sehr schnell verfliegen. Die wenigen freundlichen Worte die man miteinander wechselt, werden selten ernst genommen und unfreundliche Worte habe ich nie vernommen. Man erspart sich damit die Mühe, sich über die Worte des anderen zu ärgern – dies würde unnötige Zeit vergeuden.

Nichts ist in dieser Stadt ewig. Zeitungen werden kaum, dass sie gedruckt und verkauft worden sind, sofort weggeworfen. Warum die Zeitungen überhaupt gedruckt und gekauft werden? Auch in Entikon müssen die Redakteure, Zeitungsdrucker und Verkäufer von Zeitungen von ihren Einkünften leben. Bezahlt wird nicht mit Geld oder geldgleichen Produkten, also nicht mit Naturalien, wenn man von der Zeit absieht, die in Entikon wie eine Naturalie gehandelt wird – was sie ja letztlich auch ist – eine Naturalie, die besonders kostbar ist, weil die Tage wegen des späten Aufstehens der BürgerInnen so kurz sind.

Das Bezahlen mit Zeit hat seine Vorteile. Da der Alltag so gleichmäßig verläuft, bleiben auch die Zeitkontingente in ihrer Bewertung gleich, was das Problem inflationärer Entwicklungen ausschließt. Eine Semmel die man beim Bäcker kauft, kostet vier Zeitminuten und niemand kann sich erinnern, dass eine Semmel jemals weniger oder mehr gekostet hat. Der Nachteil dieser Zeitwährung läge natürlich im Außenhandel, d.h. beim Import oder Export von Gütern. Ich habe bewusst den Ausdruck „läge“ – also die Konjunktivform, gewählt, weil Entikon weder Produkte importiert noch exportiert. Alles notwendige wird in Entikon produziert und verbraucht – und seien es nur weggeworfene Zeitungen – denn auch das Wegwerfen ist eine Form des Verbrauches, die auch in anderen Gesellschaften üblich geworden ist. Die einzige Schwierigkeit dieses bargeldlosen Verkehrs sind die Touristen, die gelegentlich Entikon besuchen, sofern sie es gefunden haben. Die Stadtväter haben sich daher entschlossen, um die Schwierigkeiten des Geldwechsels zu vermeiden, allen Besuchern freien Zutritt und das kostenlose Überlassen gekaufter Waren zu gestatten. Dies ist einer der Gründe, warum die Einreiseformalitäten so kompliziert sind und die Aufenthaltsdauer möglichst auf 24 Stunden beschränk ist. Ein wesentlicher Teil dieser 24 Sunden werden durch die langwierigen Einreiseformalitäten verbraucht. Wenn man bedenkt, dass auch Touristen Schlaf benötigen, bleibt die übrige Zeit fast auf eine Sightseeing Tour beschränkt, der weitere Konsum der Besucher ist daher auf einen kleinen Restaurantbesuch und eventuell auf die Mitnahme von Andenkenartikeln minimiert und ebenso minimal ist dadurch die Belastung der sonst gleichförmig fließenden Wirtschaft von Entikon.

Die Einreisebehörden von Entikon sind nicht unbestechlich, ich habe mir viele Vorteile dadurch beschafft, dass ich von den vielen Arbeitsstunden die ich als Überstunden nie bezahlt bekommen hatte und die ich nie als Urlaub verbringen durfte, jeweils einige Stunden beim Besuch in Entikon den Behörden heimlich zusteckte. Eine Stunde ist viel wert, man kann dafür 15 Semmeln kaufen.

Es war recht mühsam bei meinen inzwischen häufigeren Aufenthalten in Entikon, genügend Material zusammen zu tragen, um ein – wenn auch nicht geschlossenes – so doch immerhin ungefähres Bild der Stadt zu vermitteln. Insbesondere hatte mich das Wirtschaftssystem dieser Stadt interessiert, ich muss das Studium desselben jedoch auf einen weiteren Besuch verschieben und darüber berichten

 

(redig. 2014)

 

Sightseeing in Entikon (Teil III)

 

Auf der Suche nach der inneren Symmetrie - © Alfred Rhomberg

 

 

Viele kennen den Stadtstaat Entikon als den Ort des Flüchtigen, niemand jedoch kennt Entikon ganz genau, weil die Einreiseformalitäten kompliziert sind und fast mehr Zeit beanspruchen, als einem an Aufenthaltsdauer zugestanden wird (s.a. “Das Protokoll in Entikon – auf der Suche nach dem Flüchtigen”). Umso glücklicher darf man sich preisen, wenn man an einer der mehrsprachigen und gut geführten Sightseeing Tours in Entikon teilnehmen darf. Bei meinem dritten Aufenthalt wurde mir dieses Glück zuteil.

 

Ladies and Gentlemen, sehr geehrte Damen und Herren, auf der rechten Seite sehen Sie die Hofburg von Entikon – on the right side you see the Hofburg,
oh, lovely!
Dort geht gerade Frau Hugendubel vorbei…
oh, lovely – but who is Frau Hugendubel?
She is the wife of Mister Hugendubel.
ok – and who is Mister Hugendubel?
Her husband – ihr Ehemann
impressing – really impressing! What are they doing there?
Oh – it’s very simple, they are doing the same as you are doing here…
Oh yea – and what we are doing here?
You are looking to the Hofburg and Frau Hugendubel.
ok
Wenn Sie nun bitte nach links schauen. Auf der linken Seite sehen Sie das Spiegelbild der Hofburg von Entikon, sowie das Spiegelbild von Frau Hugendubel – on the left side you are seeing…..
And who is Frau Hugendubel on the left side?
Look at the right sight once more please, than you will realize that she is the same Frau Hugendubel as Frau Hugendubel of the right side – respectively as a reflection or a mirror image of course!
Oh that’s so sophisticated! We really like Entikon!
Unfortunately your time for visiting Entikon is over now – I would really be enyoyed to tell you more about Entikon on an other trip.
Oh – what a pity, thank you very much and Good By!


Good By, Ladies and Gentlemen...

 

Nun wusste ich schon etwas mehr über Entikon und die Flüchtigkeit dieser Stadt und ich beschloss immer und immer wieder neu zu versuchen, ein Einreisevisum für Entikon zu erhalten. Ich war mir dabei bewusst, dass ich aufgrund der Flüchtigkeit dieses Ortes, Frau Hugendubel das nächste Mal wohl nicht mehr sehen würde. Aber was bedeutet schon Frau Hugendubel, wenn man Entikon und das Flüchtige dieses Orts dafür etwas besser kennen lernen darf – dieses flüchtige Entikon, quasi als Spiegelbild der Sehnsucht des Flüchtigen in uns selbst und dessen Spiegelungen innerhalb der Stadt und in uns selbst.

 

Very sophisticated indeed – but not too much!

 

 

 

(24.5.2014 - redigierte Version von 2008)

Volkswirtschaft in Entikon (Teil IV)
 
ENTEX - der Börsenindex in Entikon - © Alfred Rhomberg

Durch die Möglichkeit, Entikon jetzt öfter besuchen zu können, gelang es mir, jetzt auch etwas mehr über die Volkswirtschaft dieses Landes zu erfahren. Schon im Beitrag „Alltag in Entikon“ wurde darüber berichtet, dass die wesentliche Grundlage dieser Volkswirtschaft auf Zeitkontingenten beruht. Man muss diese Art von Nationalökonomie jedoch besser kennen lernen, wenn man sich ein umfassenderes Urteil bilden will.

 

Eine der wesentlichsten Voraussetzungen für eine Volkswirtschaft ist, dass Märkte vorhanden sein müssen, bei denen Angebot und Nachfrage den Preis von Produkten bestimmen. In einer sozialen Marktwirtschaft kommt noch eine weitere Komponente hinzu, die den Namen „sozial“ nicht nur in den Lehrbüchern enthalten sollte. Unsere Marktwirtschaften beruhen zwar auf dem Primat der sozialen Marktwirtschaft, die bei uns jedoch nur für die untersten Schichten der Bevölkerung und nur mit Einschränkungen gilt. Obere Gesellschaftskreise verdienen ihre Gehälter durch die in letzten Zeiten besonders ins öffentliche Interesse gelangte „asoziale“ Marktwirtschaft, bei der Gehälter und Bonuszahlungen den Begriff „sozial“ allenfalls dann verdienten, wenn ca. 90 Prozent davon, für karikative Zwecke gespendet würden oder an „verarmte Banken“, die dann nicht mit überhöhten Schuldzinsen wenig begüterte Kunden der Sozialhilfe ausliefern müssten.

 

In Entikon gibt es dieses Problem nicht – auch Bänker werden mit Zeitkontingenten bezahlt  und da sie über sehr hohe Zeitkontingente verfügen, kümmern sie sich nicht mehr um ihre Banken und können damit auch keinen Schaden anrichten. Sie könnten sich bei 13 Mio. angesammelten Minuten pro Jahr (rein theoretisch) genau 35616 Semmeln pro Tag kaufen, oder sie könnten beim staatlich fixierten Preis eines Hausschweines von 9000 Minuten auch 3,957 Hausschweine pro Tag essen - beides wäre vermutlich ungesund.

 

Eine dritte Möglichkeit wäre es, überschüssige Zeitkontingente auf einer Bank (gewinnbringend) anzulegen. Dies wäre physikalisch gar nicht möglich, man kann Zeit zwar wie in anderen Ländern für abgeleistete Arbeit auf Zeitkonten sammeln – die Verzinsung von Zeit - das wäre eine Vermehrung von Zeit, ist aber bisher selbst im Ausland noch nicht gelungen. Was macht man also mit den überschüssigen Zeitkontingenten? Man kauft Luxusgüter, die man ebenso wie Zeitungen (siehe Alltag in Entikon) sehr schnell nach dem Kauf wieder wegwirft bzw. verschrottet. Das hilft der Autoindustrie, den Zulieferungsfirmen, den Autoverkäufern und der Verschrottungsindustrie. All dies sind nur Beispiele, erklären aber die florierende Volkswirtschaft von Entikon.

 

Da Zeit immer Zeit bleibt und sich nicht vermehrt, sofern man unseren Zeitvorstellungen glaubt, gibt es – wie gleichfalls im Beitrag „Alltag in Entikon“ angeklungen, keine Inflation.

Aus nachvollziehbaren Gründen gibt es auch keine Wirtschaftstheorien wie den Keynesianismus (sprich Staatsverschuldung) oder den Monetarismus und auch andere „ismen“ wie z.B. den Postkeynesianismus oder den Postmonetarismus wird man in Volkswirtschaftslehrbüchern von Entikon vergeblich suchen. Man wird schon deshalb in solchen Büchern vergeblich suchen, weil es kaum andere Grundlagen als die Semmeltheorie gibt – und diese Theorie würde nicht einmal eine Seite füllen (eine Semmel ist gleich 4 Minuten), sodass sich der Druck solcher Bücher gar nicht lohnen würde.

 

Das Vorangegangene heißt nicht, dass es Volkswirtschaft in Entikon nicht gäbe, man braucht sie nur nicht zu studieren, weil sie sich seit ewigen Zeiten mit Minimalvoraussetzungen bewährt hat – und was sich bewährt hat und nicht weiter entwickelt, braucht nicht studiert zu werden. Es gibt auch nur eine einzige Dissertation, in der ein für allemal dargelegt wurde, dass es sich hinsichtlich der Volkswirtschaft um einen ewigen Prozess ohne Veränderungen handelt. Ein Volkswirtschaftler könnte daher gar keine neuen wirtschaftlichen Erkenntnisse aufspüren und auch nicht – wie in anderen Ländern üblich – andere Theorien analysieren um sie dann in einer neuen Dissertation genussvoll zu verdammen. Daher ist es bei dieser einzigen Doktorarbeit in Entikon geblieben.

 

Aktienbörsen in Entikon

 

Wer nach dem Ort der Börse fragt, muss gewärtig sein, dass die meisten Einwohner von Entikon dies nicht wissen, dass es so etwas überhaupt gibt. Natürlich gibt es irgendwo eine Börse, jedoch weiß niemand, wo sie sich befindet. Es gibt nichts Langweiligeres als Börsenmakler in Entikon zu sein. Da sowohl die Produktivität aller Güter und auch deren Bewertung stets gleich bleiben, verläuft der Börsenindex von Entikon (ENTEX) sehr eintönig – er lässt sich sowohl im Tages- als auch im Jahresverlauf durch eine völlig gerade Linie parallel zur x-Achse (mit Richtung unendlich) darstellen. Aktien zu kaufen und sie zum stets gleichen Preis wieder zu verkaufen, macht ganz einfach keinen Sinn – deshalb sitzen die Börsenmakler in der Börse untätig herum und bewerfen sich gegenseitig mit aus Papier gefalteten Flugzeugen.

 

Einiges habe ich trotzdem noch nicht verstanden: warum geben Banken Hypothekardarlehen an Einwohner, die sich ein Haus bauen wollen – wenn sie keine Kreditzinsen dafür bekommen? Wie ich das Bankensystem in Entikon bisher zu durchschauen geglaubt hatte, verläuft der Prozess etwa folgendermaßen: eine Bank, die ein Hypothekardarlehen vergibt, leiht sich das Geld von einer anderen Bank aus und diese leiht sich dann das Geld von der dritten Bank aus usw. Da es nur 7 Banken in Entikon gibt, gelangt man bald an den Punkt, wo man wieder an die erste Bank gelangt, die aber ihrerseits ja schon das Hypothekardarlehen vergeben hatte und nun sowohl das Darlehen an den Bauherren ausbezahlt, als auch von der vorletzten Bank die gleiche Summe ausleihen muss. Da kann doch einfach irgend etwas nicht stimmen – und ich komme einfach nicht darauf, warum! Gut man könnte dieses Procedere „Geldumlauf“ nennen,

 

Bei solchen schwierigen Fragen schaut man doch einmal in „Lohn, Preis, Profit“ von Karl Marx  hinein (Abschnitt 3):

 

„Dank der Größe und Konzentration des Banksystems sind viel weniger Zirkulationsmittel erforderlich zur Zirkulierung desselben Wertbetrags und zur Vollziehung derselben oder einer größeren Anzahl von Geschäften. Soweit der Arbeitslohn in Betracht kommt, gibt ihn z.B. der englische Fabrikarbeiter allwöchentlich bei dem Krämer aus, der ihn jede Woche dem Bankier zuschickt, der ihn seinerseits jede Woche wieder dem Fabrikanten zukommen lässt, der ihn wieder an seine Arbeiter zahlt usw. Vermöge dieser Einrichtung kann der Jahreslohn eines Arbeiters sage von 52 Pfd. St. mit einem einzigen Sovereign bezahlt werden, der allwöchentlich denselben Zirkel beschreibt. In England ist dieser Mechanismus sogar weniger vollkommen als in Schottland, und er ist nicht an allen Orten gleich vollkommen; und daher finden wir z.B., dass in einigen Ackerbaudistrikten im Vergleich zu den Fabrikdistrikten viel mehr Zirkulationsmittel erforderlich sind, um einen viel kleineren Wertbetrag zu zirkulieren“.

 

Bis hierhin glaubte ich Karl Marx verstanden zu haben, wenn man dann weiterliest, verliert man jede Sicherheit, jemals irgend etwas von Volkswirtschaft verstanden zu haben.

 

Ich werde Entikon wohl noch öfter besuchen müssen - irgend etwas Brauchbares sollte sich doch auch in unserer realen Welt umsetzen lassen.

 

 

(16.6.2014)

 

Feiertage in Entikon (Teil V)

 

Feuetwerk in Entikon - grafisch bearbeitetes Bild eines lizenzfreien Bildokumentes aus der Wikipedia-Enzyklopedie

Es gibt kein Volk ohne Feiertage und selbst wenn es nichts zu feiern gäbe, so erfindet man eben ganz einfach Tage wie den 1. Mai – den Tag der Arbeit. Dieser Tag wird – das soll vorausgeschickt in Entikon nicht gefeiert, weil es niemals in der Geschichte Entikons unterschiedliche Gesellschaftsklassen gab, die einem solchen Tag Sinn gegeben hätten. Anstatt dessen wird der 2. Mai gefeiert – mit der Begründung, dass es aufgrund der gesellschaftlichen Harmonie keinen 1. Mai geben muss und das ist einen Feiertag wert.

Was gibt es sonst für Feiertage? – ich müsste wirklich nachdenken, denn obwohl ich nun schon so oft diesen Stadtstaat besuchte, hatte ich nie einen Feiertag außer dem 2. Mai erlebt. Als ich das nächstemal in Entikon war, wollte ich der Frage auf den Grund gehen. Es war merkwürdig, dass alle Bürger von Entikon mich verwundert ansahen, als ich nach den Feiertagen fragte. Was heißt „ wann und welche Feiertage habt ihr? Bei uns ist doch jeder Tag ein Feiertag, nur der 2. Mai ist ein besonderer Tag“. Ich bekam stets die gleiche Antwort und bei jeder derartigen Antwort wurde ich nachdenklicher. Ist es denn nicht so, dass jeder Tag an dem man lebt als Feiertag betrachtet werden sollte? Je mehr ich darüber nachdachte, kam ich zur Erkenntnis, dass auch unsere kirchlichen Feiertage eigentlich unnotwendig seien, wenn man sich täglich seines Glaubens bewusst wäre. Ich hatte das früher nie unter diesem Gesichtspunkt betrachtet – jetzt beginne ich langsam ähnlich zu denken. Und wie ist das mit den Nationalfeiertagen, dem 14. Juli zum Beispiel, an dem der Sturm auf die Bastille gefeiert wird oder dem Nationalfeiertag unserer Unabhängigkeit? Hätte es immer gesellschaftliche Eintracht bei uns – so wie in Entikon – gegeben, brauchten wir solche Tage nicht zu feiern. Ich verstand jetzt auch, dass in Entikon jeden Abend ein kleines Feuerwerk abgebrannt wurde bevor die Nachtwächter durch die Straßen zogen und ein paar Takte aus der Bachkantate „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben“ sangen. Ist es nicht so, dass die Flüchtigkeit unseres Lebens und aller Dinge die eigentliche und einzige Konstante unseres Lebens ist? Die Bürger von Entikon hatten das längst erkannt und daher ist die Flüchtigkeit das selbstverständliche Grundprinzip dieser Stadt. Die Ahnung, dass es einen solchen Ort geben müsse, war der eigentliche Antrieb, mich vor vielen Jahren auf die Suche nach Entikon zu begeben. Es ist eine Stadt, die nur der findet, der das Flüchtige sucht. Ich habe diese Stadt gefunden, nicht weil ich diese Flüchtigkeit wirklich liebe, sondern weil ich, wenn ich diese Stadt nicht gefunden hätte, mir der Flüchtigkeit der Dinge nicht so bewusst geworden wäre. Ich pendele jetzt häufig zwischen dem Stadtstaat Entikon und der übrigen Welt, in der man vergisst, dass unser Leben flüchtig ist und daher versucht, dieser Flüchtigkeit durch eine Vielzahl völlig unnotwendiger Feiertage zu entgehen. Was bedeutet schon der 50-zigste, 75-zigste oder gar der hundertste Geburtstag? Irgendwann ist das Leben beendet.

Es bleiben zum Schluss nur noch die Worte der Bachkantate, zunächst in der Originalfassung des Textes von Michael Franck (1609–1667) und anschließend die in der Bachkantate BWV 26 verwendete Umdichtung eines unbekannten Dichters in der nur die erste und letzte Strophe der ursprünglichen Fassung verwendet wird.

1.
Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
ist der Menschen Leben!
Wie ein Nebel bald entstehet.
und auch wieder bald vergehet,.
so ist unser Leben, sehet!.

2.
Ach wie flüchtig, ach wie nichtig.
sind der Menschen Tage!.
Wie ein Strom beginnt zu rinnen.
und mit Laufen nicht hält innen,.
so fährt unsre Zeit von hinnen.

3.
Ach wie flüchtig, ach wie nichtig.
ist der Menschen Freude!.
Wie sich wechseln Stund und Zeiten,
Licht und Dunkel, Fried und Streiten,
so sind unsere Fröhlichkeiten.

4.
Ach wie flüchtig, ach wie nichtig.
ist der Menschen Schöne!
Wie ein Blümlein bald vergehet,
wenn ein rauhes Lüftlein wehet,
so ist unsre Schöne, sehet!

5.
Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
sind der Menschen Schätze!
Es kann Glut und Flut entstehen,
dadurch, eh wir uns versehen,
alles muss zu Trümmern gehen.

6.
Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
ist der Menschen Prangen!
Der im Purpur hoch vermessen
ist als wie ein Gott gesessen,
dessen wird im Tod vergessen.

7.
Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
sind der Menschen Sachen!
Alles, alles was wir sehen,
das muss fallen und vergehen.
Wer Gott fürcht, wird ewig stehen.

J. S. Bach, BWV 26 “Ach wie flüchtig, ach wie nichtig”

1. Coro
Corno col Soprano, Flauto traverso, Oboe I/II, Violino I/II, Viola, Continuo

Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
Ist der Menschen Leben!
Wie ein Nebel bald entstehet
Und auch wieder bald vergehet,
So ist unser Leben, sehet!

2. Aria T
Flauto traverso solo, Violino solo, Continuo

So schnell ein rauschend Wasser schießt,
So eilen unser Lebenstage.
Die Zeit vergeht, die Stunden eilen,
Wie sich die Tropfen plötzlich teilen,
Wenn alles in den Abgrund schießt.

3. Recitativo A
Continuo

Die Freude wird zur Traurigkeit,
Die Schönheit fällt als eine Blume,
Die größte Stärke wird geschwächt,
Es ändert sich das Glücke mit der Zeit,
Bald ist es aus mit Ehr und Ruhme,
Die Wissenschaft und was ein Mensche dichtet,
Wird endlich durch das Grab vernichtet.

4. Aria B
Oboe I-III, Continuo

An irdische Schätze das Herze zu hängen,
Ist eine Verführung der törichten Welt.
Wie leichtlich entstehen verzehrende Gluten,
Wie rauschen und reißen die wallenden Fluten,
Bis alles zerschmettert in Trümmern zerfällt.

5. Recitativo S
Continuo

Die höchste Herrlichkeit und Pracht
Umhüllt zuletzt des Todes Nacht.
Wer gleichsam als ein Gott gesessen,
Entgeht dem Staub und Asche nicht,
Und wenn die letzte Stunde schläget,
Dass man ihn zu der Erde träget,
Und seiner Hoheit Grund zerbricht,
Wird seiner ganz vergessen.

6. Choral
Corno e Flauto traverso e Oboe I/II e Violino I col Soprano,

Oboe III e Violino II coll’Alto, Viola col Tenore, Continuo

Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
Sind der Menschen Sachen!
Alles, alles, was wir sehen,
Das muss fallen und vergehen.
Wer Gott fürcht’, bleibt ewig stehen.


Dies ist das vorläufige Ende der Reihe „Entikon – auf der Suche nach dem Flüchtigen“. Sollten mir bei weiteren Besuchen dieser Stadt erwähnenswerte Neuigkeiten auffallen, werde ich selbstverständlich darüber berichten.

 

(redigiert 2014)

 

 

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