Die Zeitfabrik
Irgendwo im Zeitlosen befand sich eine Zeitfabrik. Die Gründer der Fabrik hatten sich bewusst das Land der Zeitlosigkeit ausgesucht – eine zwar absurde Idee, aber sie gingen von dem sich nachträglich als falsch erwiesenen Geschäftsmodell aus, dass es am profitabelsten sei, aus nicht vorhandener Zeit, Zeit zu produzieren. Diese wollten sie in Länder exportieren, wo der Spruch „Zeit ist Geld“ noch gilt. Sie hatten sich auch schon eine erfolgsträchtige Produktpalette vorgestellt, nämlich MEZ (Mitteleuropäische Zeit) als Kerngeschäft, darüber hinaus verschiedene Sonderanfertigungen wie z.B. Fastenzeit, Sommerzeit und für verwöhnte Ansprüche: gekrümmte Raumzeit (nach Albert Einstein). Nicht vorhandene Zeit wäre als Rohstoff im Land der Zeitlosigkeit vermutlich sehr billig gewesen. Das Produktionsgebäude war bereits errichtet und die bestellten Zeitproduktionsmaschinen geliefert, als sich herausstellte, dass auch die besten Maschinen nicht in der Lage waren, aus „nichts“, d.h. nicht vorhandener Zeit irgend etwas zu produzieren. Dies hatten die Gründer beim Vertragsabschluss des Maschinenkaufs übersehen – auch deswegen, weil es nicht explizit in den Kaufprospekten stand. Die Gründer hätten ihr Geschäftsmodell dadurch retten können, wenn sie den Maschinen wenigstens ein paar Millisekunden als Rohstoff zur Verfügung gestellt hätten, aber auch Millisekunden sind im Land der Zeitlosigkeit ein so kostbares Gut, dass der Ankauf dieses Rohstoffs unerschwinglich, wenn nicht sogar unmöglich war, weshalb sie wegen der sogenannten “Prospekthaftung”, wonach in den Prospekten alle Einzelheiten über die anzukaufenden Zeitmaschinen hätten stehen müssen, die hier jedoch fehlten, vor Gericht gingen.
Die Richter meinten lakonisch, auch wenn solche Einzelheiten nicht explizit im Kaufvertrag festgelegt worden waren, hätte ein ordentlicher Kaufmann wissen müssen, dass aus nichts nichts werden könne. Da das Gericht zusätzlich einen bekannten Existenzphilosophen als Gutachter heranzog, der die Begründung des Gerichtes bestätigte, war das gesamte Geschäftsmodell gescheitert und den Fabrikgründern blieb nichts anderes übrig, als die Gerichtskosten des verlorenen Prozesses und insbesondere die hohen Kosten des Existenzphilosophen zu bezahlen, denn auch Existenzphilosophen müssen von etwas Existenziellem existieren.
Wie viele Existenzgründer hatten die Firmengründer der Zeitfabrik im Rausch der Firmengründung die einschlägige Literatur bedeutender Physiker, z.B. Isaak Newton, nicht gelesen:
Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.“ (1687).
Hätten sie gar die wesentlichen Sichten Albert Einsteins zur Raumzeit studiert, hätten sie von ihrem Vorhaben wohl schnell Abstand genommen, obwohl dies alles einschließlich der wichtigsten mathematischen Formeln in der Wikipedia-Enzyklopädie einfach nachzulesen gewesen wäre:
Die Raumzeit oder das Raum-Zeit-Kontinuum bezeichnet in der Relativitätstheorie die Vereinigung von Raum und Zeit in einer einheitlichen vierdimensionalen Struktur, in welcher die räumlichen und zeitlichen Koordinaten bei Transformationen in andere Bezugssysteme miteinander vermischt werden können (Zitatende).
Die dann folgenden Formeln hätten die Gründer vermutlich völlig von ihrem Vorhaben abgeschreckt, denn die Herstellung von gekrümmter Zeit sollte zwar nicht das Kerngeschäft bilden, wäre jedoch wegen der billigen Rohstoffe Raum und Zeit ein wesentlicher Faktor gewesen, die Konkurrenz zu schlagen – zumal gekrümmte Zeit bisher noch nicht im Handel ist.
(22.4.2012)