Das Geheimnis

 

 

Das Geheimnis - (c) Alfred Rhomberg

 

Ein Geheimnis ist dort am besten aufgehoben, wo man es gefunden hat. Neulich als ich auf einer Wanderung am Wegrand ein solches fand, konnte ich es nicht über das Herz bringen, es dort liegen zu lassen und so steckte ich es einfach ein. Es war kein besonders großes Geheimnis, aber das Wesentliche aller Geheimnisse ist bekanntlich, dass ihre Auswirkungen nicht von ihrer Größe abhängen. Von Zeit zu Zeit nahm ich das Geheimnis heraus und nahm es liebevoll in die Hand – Geheimnisse mögen das nicht, weil sie glauben, jemand wolle das ihnen innewohnende Unbekannte lüften. Da hätten sie vor mir wirklich keine Angst haben müssen – ich wusste genau, dass man ein Geheimnis sofort verliert, wenn man seiner Beschaffenheit auf die Spur kommt und dann hätte ich kein Geheimnis mehr gehabt und es gleich dort liegen lassen können, wo ich es gefunden hatte. Als ich es also sorgfältig wieder einsteckte, wurde mir bewusst, dass ich nun zum Geheimnisträger geworden war.

 

Das war eine völlig neue Erfahrung, denn man zieht damit ganz automatisch das Interesse ganz neuer, unterschiedlicher Kreise an. Einige vermuteten, ich sei ein Amtsgeheimnisträger die man mit Vorsicht und Respekt behandelt, reich kann man damit nicht werden, weil der Verrat von Amtsgeheimnissen oder Bestechung strafbar sind. Als Betriebsgeheimnisträger hätte ich schon eher reich werden können, aber wie teile ich den anderen mit, dass ich ein derartiger Geheimnisträger bin. Ich kann mir doch kein Schild umhängen oder eine Annonce in der Zeitung aufgeben: „Betriebsgeheimnisträger bietet geheime Unterlagen zum Höchstpreis an“ (so viel hätte ich wohl verlangen können, obwohl ich mir noch gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie hoch Höchstpreise derzeit überhaupt sind). Noch mehr hätte ich vermutlich verlangen können, wenn man in mir einen Staatsgeheimnisträger vermutet hätte. Die Russen hätten sicher sehr viel für die Information bezahlt, dass wir das Atomkraftwerk Zwentendorf in Österreich damals deswegen nicht in Betrieb genommen hatten (obwohl es fertiggestellt war), weil es in Österreich wegen des von Bruno Kreisky verursachten „defizit spendings“ (heute bezeichnet man das wohl moderner mit dem Fremdwort Staatsverschuldung) überhaupt keine brauchbaren Atome mehr im Lande gab und andere Länder wollte man wegen der damals noch unangetasteten Neutralität nicht um Atom-Almosen bitten. Zudem lebt man als Staatsgeheimnisträger auch nicht ungefährlich - ich würde ich in Österreich vielleicht nicht gerade mit radioaktivem Polonium vergiftet aber vermutlich durch eine Rufmordkampagne gesellschaftlich geächtet. Nein ich verrate nichts! Beichtgeheimnisträger wollte ich nicht werden, weil damit (subjectiv gesehen) zwei Nachteile verbunden gewesen wären: 1. ich hätte Priester werden müssen und 2.) hätte ich die Geheimnisse dann wegen des Beichtgeheimnisses nicht verraten dürfen – und selbst wenn ich mich trotzdem dazu entschlossen hätte – wer besucht heute noch einen Priester, wenn er etwas wirklich Niederträchtiges, wie falsche Wahlversprechungen, Auftragsmorde oder Bilanzfälschungen, begangen hätte.

 

Ich wurde mir bald bewusst, dass das Tragen eines Geheimnisses mit mehr Bürden als Gewinn verbunden war. Daher gab es jetzt nur noch zwei Möglichkeiten sinnvollen Handelns. Entweder, ich hätte das Geheimnis gelüftet und es dadurch zerstört, dann hätte ich in meinem Leben nie ein eigenes Geheimnis besessen. Oder ich würde das Geheimnis wieder an den Ort zurücklegen, wo ich es gefunden hatte. Damit wären dann drei Vorstellungsmöglichkeiten verbunden gewesen: a) ein anderer hätte das Geheimnis gefunden und ähnliche Probleme damit gehabt wie ich (das hätte mir zumindest den Lustgewinn der Schadenfreude verschafft), oder b) ich hätte es verschenken und abwarten können, was der Beschenkte damit anfangen würde. Das wäre mühsam gewesen und hätte einer ständigen Beobachtung des Beschenkten bedurft und wenn ich zudem noch festgestellt hätte, dass der Beschenkte mehr Fantasie als ich gehabt hätte und das geschenkte Geheimnis gewinnbringend verkaufen konnte, wäre ich auf den Beschenkten ohne dessen Schuld wütend geworden und hätte ihn vielleicht sogar als Geheimnisträger – der er nun eigentlich nicht mehr war – denunziert. So weit wollte ich nicht gehen. Endlich fand ich einen dritten gangbaren Weg, in dem ich das ungelüftete Geheimnis in einem gut gesicherten Tresor einer Bank aufbewahrte. So konnte ich mein Geheimnis behalten ohne Geheimnisträger zu sein. Die einzige Mühe die ich jetzt noch mit meinem Geheimnis habe, ist, dass ich jeden Tag die Nachrichten aufmerksam verfolge um zu wissen, ob die Bank nicht allen Versprechungen zum Trotz, doch der allgemeinen Bankenkrise von 2008 zum Opfer gefallen ist. Zwar hat die Regierung versprochen, alle Sparguthaben im Falle eines Crashs abzusichern bzw. zurückzuerstatten – wie sie jedoch mit Geheimnissen umgeht, ist nicht gesichert bzw. durch diverse Untersuchungsausschüsse hinreichend bekannt.

 

 

(2011, redigiert 2014)

 

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