Der Pfingstochse - hinter der Maske der Eitelkeit lauert oft der Tod

 


Vanitas, aus Caspar Lavaters physiognomische Fragmente (um 1775), copryrights erloschen

 

 

Ein Pfingstochse wurde am Pfingstsonntag so wunderschön geschmückt, dass er völlig vergaß, ein Ochse zu sein – und so führte er nicht, wie nach altem Brauch üblich, die Herde im Mai zum ersten Mal auf die Weide, sondern er begab sich in die Stadt, damit auch andere seine Schönheit bewundern konnten. Was er dort alles sah! – Mädchen mit grüngefärbten Haaren, junge Männer mit Jeans, deren Hosenboden bis fast auf die Asphaltdecke herunterreichten und vieles andere, das er noch nie gesehen hatte. Eigentlich hatte er geglaubt, dass frau/man ihn vielleicht etwas verwundert anstarren würde, um dann seine Schönheit mit Begeisterungszurufen und Applaus zu würdigen. Nichts dergleichen geschah – die Bewohner der Stadt fühlten sich selbst so hübsch und beachtenswert, dass niemand auf den Pfingstochsen achtete. Etwas zweifelnd betrachtete er sich in einem spiegelnden Schaufenster und stellte fest, dass die Bewohner der Stadt keinerlei ästhetischen Geschmack hatten – warum sollten sie sich daher auch nach einem Pfingstochsen umsehen? Warum soll man Perlen vor die Säue bzw. Ochsen vor die Unwissenden streuen? Etwas deprimiert war er schon – er hatte insgeheim gedacht, dass er in der Stadt vielleicht eine hübsche Öchsin finden würde, die es am Lande einfach nicht gab. Um seine traurige Stimmung etwas aufzuhellen, ging er ins nächste Gasthaus und trank zwei Maß Pfingst Bockbier, dann studierte er die Speisekarte und sah zu seinem Entsetzen Gerichte wie Ochsenschwanzsuppe, Ochsenbraten und Ochsenmaulsalat – in welche Gesellschaft war er in dieser Stadt geraten? Seine Sinne waren zwar nach dem zweiten Maß Pfingst Bockbier etwas getrübt, aber nicht so weit, dass er zum Kannibalen würde. Mit erhobenem Haupt verließ er das Lokal und die grässliche Stadt der Banausen und begab sich wieder in sein Dorf am Land. Seine Blumenpracht war inzwischen verwelkt, die Artgenossen längst auf der Weide, er war ochsenseelen allein und musste zudem gewärtig sein, als Pfingstochse gebraten zu werden.

 

Und die Moral? Wer von anderen mit Blumen, Orden und Titeln geschmückt wird, kann nichts dafür – die anderen wollen es so – wer jedoch durch diesen Schmuck in seiner Eitelkeit zu weit geht, wird traurig enden – eben ochsenseelen allein.

 

 

(17.10.2013, der Beitrag wurde erstmals am 8.4.2012 publiziert, ging jedoch wegen eines Totalabsturzes des Vorläufermagazins "verloren")

 

 

 

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