Was nicht in den Noten steht (II) – Musikwahrnehmung ist ein komplizierter Prozess

 

 

Noten-Fragezeichen - (c) Alfred Rhomberg

 

Die Wahrnehmung von Tönen und das im Gehirn erzeugte Musikerlebnis ist erheblich komplizierter als frau/man denkt, jedenfalls lässt sich Musik nicht einfach auf eine emotionelle und eine intellektuelle Komponente reduzieren. Zwar ist der Musikgenuss zunächst ein emotionelles Erlebnis, dies lässt sich daran erkennen, dass auch jemand, der nicht viel von Musik versteht, eine Mozartarie oder Sinfonie als „schön“ bezeichnen kann. Wer sich mit Kompositionslehre beschäftigt weiß, dass auch eine starke intellektuelle Komponente im Spiel ist. Aber ist das alles? Sicher nicht – vermutlich ist die Musikwahrnehmung sogar noch komplizierter als die Wahrnehmung und Verarbeitung von Sinnesreizen des Auges.

 

Musik als evolutionäres Nebenprodukt der menschlichen Sprache?

 

Die Musik ist in der menschlichen Evolution möglicherweise ein Nebenprodukt der Sprache – ein Nebenprodukt deswegen, weil es sehr sprachgewaltige Menschen gibt, die sich für Musik nicht interessieren und sie offenbar nicht brauchen. Doch schon der Gesang einer Amsel wirft so viele Probleme auf, die heute noch fast alle unbeantwortet sind und deren Beantwortung auch für die Bedeutung von Musik für den Menschen interessant wäre. Haben Amseln (und natürlich andere Tiere) eine Sprache? Wenn der Amselgesang eine Sprache wäre, ist die Sprachfunktion dann nur auf die bekannten Warn- und Informationsgeräusche beschränkt oder sind darüber hinausgehende Laute des so unterschiedlichen „Amselgesanges“ nicht vielleicht auch eine Art Musik, die aus Lebensfreude des Augenblicks entsteht? Von Artgenossen wird der Amselgesang offenbar fast wie im Sinne einer Sprache beantwortet, wie jedEr dies leicht vor Sonnenuntergang feststellen kann. Werden da Tageserlebnisse ausgetauscht – oder ist der Gesang ein der Musik vergleichbares Nebenprodukt einer Sprache? Wir wissen es nicht!

 

Mit Sicherheit lässt sich annehmen, dass unser Gehirn wie bei anderen Reizen zunächst darauf trainiert ist, ungewöhnliche symmetrische Reize von unsymmetrischen, eher zufälligen Ereignissen zu unterscheiden, weil dies unter Umständen lebenswichtig ist.

 

Das Ohr ist ein höchst kompliziertes Organ

 

Unsere Ohren sind wesentlich komplizierter aufgebaut, als es normalerweise angenommen wird. Ohne auf anatomische Details näher einzugehen, ist bekannt, dass nicht nur das Trommelfell wichtig ist und die durch Töne erzeugten Schwingungen einfach weitergeleitet werden. Das menschliche Ohr hat mehr als 12 wichtige Teile, die daran beteiligt sind, den Reiz an das Gehirn weiterzugeben (Cochlea, Haarzellen, Basiliarmembran, Corti’sches Organ etc….). Es stimmt auch nicht, wie früher angenommen, dass eine von der Tonfrequenz abhängige Erregung der „Basiliarmembran“ (nicht zu verwechseln mit dem Trommelfell) bei einer der Veränderung eines Signals (z.B. Frequenzänderung) dann einfach zu einer Änderung der gehörten Tonhöhe führt – es gibt inzwischen so viele Theorien, die weit in die Hirnphysiologie hineinragen, dass hier nicht der Platz wäre, genauer darauf einzugehen. Dieser Beitrag kann kein medizinisches Kompendium sein, sondern will auf bestimmte Fragen aufmerksam machen, die im Musikstudium kaum behandelt werden – also auf das „was nicht in den Noten steht“.

 

Unterschiedliche Theorien

 

Periodische Schwingungen lösen eine Erregungszone auf der Basiliarmembran aus. Nach der von Helmholtz von 100 Jahren begründeten „Ortstheorie“ wird die Tonhöhe von der Lage (dem Ort) der Erregungszone auf der Basiliarmembran bestimmt. Diese Theorie, für die es mehrere Hinweise gab, erklärt manche Phänomene nicht. Hören wir z.B. Töne mit einer bestimmten Klangfarbe, die also außer dem Grundton auch noch viele Obertöne enthalten, so hören wir die Tonhöhe des Grundtons selbst dann, wenn frau/man den Klang durch einen minderwertigen Lautsprecher hört, bei dem der Grundton (wenn er sehr tief ist) kaum mehr oder sogar überhaupt nicht durch den Lautsprecher wiedergegeben wird. Obertöne können dagegen bei schlechten Lautsprechern kaum mehr herausgehört werden. Es muss also eine viel komplexere Verteilung der Erregungszonen auf der Basiliarmembran existieren. Es gibt psychoakustische Experimente, die gegen die oben erwähnte Ortstheorie sprechen.

 

Durch die sogenannte „Zeittheorie“ könnte erklärt werden, warum ein Grundton auch dann noch in einem Gemisch von Obertönen gehört werden kann, wenn er prinzipiell gar nicht mehr vom Ohr aufgenommen werden könnte (durch schlechte Lautsprecher), weil die sehr kurzen Zeitintervalle zwischen zwei Impulsen einer geordneten statistischen Verteilung unterliegen die vom Schwingungsmuster eines gehörten Tones abhängt und die Information des Schwingungsmusters dann an das Gehirn weitergeleitet und analysiert wird. Auch diese Theorie löst nicht alle Fragen.

 

Neuronenmodelle

 

Ein neueres Neuronenmodell nimmt an, dass die Intervalle von Obertönen (Oktave, Quinte, Quarte, große Terz, kleine Terz) durch Lernprozesse als eine Art Schablone bereits im Gehirn vorliegen, sodass das Gehirn fehlende Schwingungen wieder ergänzen kann. Durch diese Theorie ließe sich auch erklären, warum Konsonanzen anders als Dissonanzen vom Gehirn akzeptiert werden, nämlich, weil die genannten harmonischen Obertöne stärker präsent sind. Allerdings sind die harmonischen Töne nie völlig rein, sondern es handelt sich immer um etwas gespreizte Obertonintervalle, weil es ja sehr unterschiedlich temperierte Tonleitern (Kirchentonleitern im Mittelalter, Dur/Moll Schema, Tonleitern der Klassik, Pentatonik, Zwölftonreihe etc.) gibt und weil in unserem heutigen Musikverständnis ein „as“ nur für einen Pianisten mit einem „gis“ übereinstimmt (für Streicher oder Bläser sind dies unterschiedliche Töne). Dazu kommt, dass der gleiche Ton E als Grundton einer E-Dur Tonleiter eine andere Funktion hat als das E als Terz (E) in einer C-Dur Leiter etc.

 

Abgeleitete Fragen

 

Diese Spreizung lässt interessante Fragen zu. Beruht zum Beispiel die Tatsache, dass wir uns an Dissonanzen in hohem Maße gewöhnen können darauf, dass das Gehirn umlernt?

 

Oder: ist uns afrikanische, indische oder japanische Musik anfänglich deswegen so fremd, weil die für diese Musik im Gehirn angelegten Schablonenmuster erst erlernt werden müssen?

 

Das Phänomen “Jazz”

 

Es gibt sogenannte „Blue Notes“, die insbesondere im Jazz zur Formung eines bestimmten „sounds“ eingesetzt werden (auch der Gattungsbegriff “Blues” leitet sich von den Blue Notes ab). Dabei handelt es sich um Töne, die zwischen den von den Tonleitern eigentlich vorgesehenen Tonintervallen stehen. So lassen Jazztrompeter einen Ton beispielsweise zwischen der Dur-Terz und der Moll Terz (große und kleine Terz) pendeln. Dadurch entstehen interessante Improvisationsmöglichkeiten, die nicht so stark an unser gewohntes Dur-Moll Schema gebunden sind. In diesem Punkt (übrigens auch hinsichtlich der Improvisation) ist der Jazz der Alten Musik näher als der klassischen Musik. Bei einem bestimmten Konzert mit „Alter Musik“ versuchte der Autor einige Minuten nicht auf den gesungenen Text zu achten – dabei wurde die Nähe zum Jazz immer greifbarer, umsomehr als in der Alten Musik häufig auch die Rhytmik eine größere Rolle spielt als in der Klassik.

 

Wie in der gesamten Sinnesphysiologie stehen Hirnphysiologen erst am Anfang ihrer Wissenschaft.

 


Anm.: Der Autor des Beitrags ist Naturwissenschaftler und Hobby-Musiker, er begann mit Jazz, war klassischer Flötist (Blockflöten, Querflöte) und ist heute glühender Verehrer der „Alten Musik“, sowie jeder anderen Art „anspruchsvoller Musik“ (Jazz eingeschlossen). Anstoß für diesen Beitrag waren eigene oszillographische Messungen beim Eigenbau von HiFi-Stereoanlagen und Lautsprechersystemen, deren Kauf um 1965 noch extrem teuer war und wobei beim Bau solcher Geräte eine Signalverfolgung unumgänglich notwendig ist.

 

(07.09.2010)

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