Josef von H. und sein hoffnungsloser Kampf gegen das Halbwissen

 

Wilhelm von Humboldt - grafisch verändrte deutsche Briefmarke (Alfred Rhomberg), Public Domain

 

 

Josef von H. dachte oft über seine geistigen Vorbilder, die beiden Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt und deren allumfassendes Wissen nach. Sie waren in die Geschichte eingegangen, weil sie angeblich das gesamte Wissen ihrer Zeit beherrschten. Wieweit so eine Behauptung stimmt, können wir und Josef von H. heute nicht mehr beurteilen – sicherlich ist unser Wissen in den vergangenen Jahrhunderten enorm gewachsen – doch wie viele Jugendliche gibt es heute noch, die wie Wilhelm v. Humboldt mit 13 Jahren neben der deutschen Muttersprache auch griechisch, lateinisch und französisch fließend beherrschen und dazu die wesentliche Literatur dieser Sprachen kennen.

 

Josef von H. war sich bewusst, dass er heute im 21. Jahrhundert nicht mehr das gesamte Wissen seiner Zeit wie seine berühmten Vorbilder beherrschen konnte, seine Wissbegierigkeit war allerdings mindestens ebenso groß. Um sich im Dschungel unseres modernen Wissens zurechtzufinden dachte Josef oft darüber nach, ob er mehr der Allgemeinbildung oder einem soliden Spezialwissen den Vorzug geben sollte und/oder ob all das, was er bereits gelernt hatte nicht in Wahrheit „nur Halbwissen“ war. Vielleicht sind Allgemeinwissen oder Spezialwissen nur besondere, wenn auch unterschiedliche Formen von Halbwissen?

 

Und wie steht es mit dem ganzen Pseudowissen, das ihn über die neuen Medien wie Facebook, aber auch durch „seriöse Nachrichtenkanäle“ zunehmend irritierte – Josef wollte sich ja nicht allem verschließen, sonst hätte er wohl Eremit werden müssen, was heute allerdings auch nicht mehr so leicht realisierbar ist, wie in alttestamentarischen oder mittelalterlichen Zeiten.

 

Um solche Fragen beantworten zu können hatte Josef sich einfache Antworten ausgedacht, die zwar nicht eindeutig die Frage beantworteten, ob er sich eher dem Allgemeinwissen (mit dem man in unserer Zeit nicht viel anfangen kann) oder dem besser verwertbaren Spezialwissen widmen sollte - in jedem Fall sollten seine Überlegungen jedoch den Unterschied zu dem von ihm verachteten Halbwissen deutlich machen:

 

Allgemeinwissen plus Allgemeinwissen bleibt Allgemeinwissen (sic!).

 

Da konnte Josef in der Addition nichts Schädliches finden, denn obwohl das Wort „allgemein“ grammatikalisch nicht steigerbar ist, auch wenn manche „Halbwissende“ dies gelegentlich versuchen, konnte allenfalls etwa hinzukommen.

 

Spezialwissen plus Spezialwissen = noch mehr Spezialwissen! . . .(sic!)

 

(für denjenigen der Spezialwissen braucht, vielleicht nützlich – aber nichts veraltet so schnell wie Spezialwissen und dann bleibt im Gunde gar nichts mehr).

 

Halbwissen plus Halbwissen ?

 

Eine sehr schwierige Frage: ein halber Liter Wein plus ein weiterer halber Liter Wein wird fraglos zu einem ganzen Liter Wein - und so ist es mit vielen Dingen! (vorsichtiges „sic!).

Jedenfalls kam er um die Frage nicht herum, was Halbwissen wirklich bedeutet!

 

In der oft so nützlichen Wikipedia-Enzyklopädie fand Josef nur das Stichwort „Gefährliches Halbwissen“ – das war interessant, denn er betrachtete Halbwissen von je her als gefährlich! Beim Nachschlagen des Stichwortes fand er dann leider nur, dass ein Musikalbum der Hamburger Hip-Hop Gruppe Eins Zwo so heißt. Dass dieses 1999 erschienene Album 20 Wochen die hohe Chart-Position von Platz 10 erreichte, sprach nicht gerade dafür, dass es sich bei Halbwissen um etwas Positives handelt – allerdings war das Stichwort hier ja „Gefährliches Halbwissen“.

 

Zum Thema Halbwissen fielen Josef zwei hübsche Zitate ein, die irgendwie mit seinem Problem in Zusammenhang standen:

 

„Toren und gescheite Leute sind gleich unschädlich. Nur die Halbnarren und Halbweisen, das sind die Gefährlichsten“ (Johann Wolfgang von Goethe)

 

(Goethe hat nicht immer, aber sehr oft recht - in diesem Fall hatte er ganz sicher recht!)

 

und:

 

„Die Politik hat häufig unzureichende Kenntnisse über ökonomische Zusammenhänge, und die Wirtschaft hat häufig unzureichendes Verständnis für politische Abläufe“ (Utz Claassen, dt. Manager – Quelle: FOCUS)

 

(stimmt – besonders in letzter Zeit!)

 

Dann fand Josef unter stupedia.org und dem wiki-Namen „stupi“ eine schier unendliche Reihe von Stupiditäten des Halbwissens aus allen Wissens- und Lebensbereichen. Josef von H. war also nicht der Einzige, dem Halbwissen auffiel – nur fand er in den angegebenen Quellen keinerlei Hinweise, wie man diesem Halbwissen entrinnen konnte. Er musste also eine eigene Strategie gegen die Gefahr des Halbwissens erfinden – wobei ihm das Halbwissen der anderen eigentlich solange gleichgültig war, als es ihn nicht selbst betraf. 

Genau dies war bei genauerer Analyse seiner Lebensumstände jedoch das Hauptproblem, weil er sehr schnell feststellte, fast überall und rund um die Uhr vom Halbwissen der anderen nicht nur belästigt, sondern sogar bedroht zu werden.

 

Wenige Beispiele genügen um dieses bedrohliche Halbwissen aufzuzeigen:

 

Josef hatte einen Teil seiner Ersparnisse in Geldprodukte einer soliden Bank angelegt, die ihm sein Anlageberater empfohlen hatte. Es waren kompliziertere Produkte, die er nicht verstand, leider verstand offenbar auch sein Anlageberater die Produkte nicht, jedenfalls lösten sich seine Ersparnisse ins Nichts auf, wobei Josef seinem Anlageberater nicht einmal Betrug vorwerfen wollte, dazu kannte er ihn schon zu lange – es war nur ein typischer Vertreter der besonders in dieser Branche sehr häufigen „Halbwissenden“.

 

oder:

 

In einem renommierten Elektrogeschäft wollte Josef ein „Ohmmeter“ (zur Messung des Widerstandes) kaufen – der freundliche Verkäufer stutzte und fragte: „was ist das?“ und nach Josefs Erklärung: „und zu was muss man das wissen?“

 

oder:

 

Die zunehmenden Verordnungen zur Eindämmung der Klimaerwärmung – hier erübrigt es sich (nach Josefs Wissenstand), all zu viel darüber nachzudenken, weil es nichts nützt, wenn Länder wie Österreich oder Deutschland auf die Entwicklung von Elektroautos setzen - selbst wenn dies ein Exportschlager für China oder Indien wäre, ohne zu wissen, wo der dafür benötigte Strom in diesen Ländern klimafreundlich herkommt. Ärgerlich war auch, dass er alle elektrischen Glühbirnen durch Sparlampen austauschen musste, die zum Großteil nicht mehr in seine Lampen passten. 

 

oder:  - es gäbe so viele „oder“, dass sich eine weitere Aufzählung von „oders“ erübrigt.

 

Wie sollte Josef von H. dann jedoch seinen Wunsch nach echtem Wissen erfüllen?

 

Zunächst verfolgte er einen positivistischen Ansatz, wobei „positivistisch“ wenig mit „positiv“ zu tun hat. Der typische Positivist lässt nur das gelten, was mess- und nachweisbar ist. Das klingt zunächst brauchbar, um jeder Art von Halbwissen zu entrinnen. Trotzdem kamen bei Josef sehr schnell Zweifel auf:  der Positivismus hatte sich im 19. Jahrhundert in den Naturwissenschaften recht gut bewährt als die Probleme noch einfacher waren und die erforderlichen mathematischen Kenntnisse zum Messen und Beweisen der damaligen Naturphänomene offenbar ausreichten, um „echtes Wissen“ zu schaffen. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts und erst recht heute, sind physikalische und insbesondere astrophysikalische Probleme nur mehr mit komplizierten mathematischen Verfahren berechenbar, die inzwischen auch von den besten Mathematikern nicht mehr wirklich verstanden werden, d.h. alles ist zwar noch immer berechenbar, doch wer versteht z.B. die komplizierte Mathematik der „Stringtheorie“ – oder des parallelen Vorhandenseins mehrerer Universa?

 

In der Nationalökonomie und den Wirtschaftwissenschaften schienen die Dinge nicht weniger kompliziert zu sein. Wurden früher Waren produziert und entweder im Tauschweg mit anderen Waren oder durch Silber- oder Goldmünzen ge- und verkauft, scheint Geld heute durch einfaches Vervielfachen durch Gelddruckmaschinen zu wachsen. Und dann die vielen Abartigkeiten des Geldes - wer versteht schon, wie das Derivat eines Derivates funktioniert, das wiederum von irgendeinem anderen Derivat abgeleitet ist (siehe weiter oben)? Sicherlich beruhte vieles auf Betrug und Gier, doch bediente man sich auch äußerst komplizierter Computerprogramme, die von Experten programmiert wurden, die offenbar keine Ahnung von den komplizierten derivativen Geschäften und den damit vielleicht verbundenen mathematischen Algorithmen hatten.

 

Überall Halbwissen – wo Josef von H. auch hinsah! Und das Schlimmste war, dass die modernen Bildungssysteme sich immer mehr zu Brutstätten für Halbwissen entwickelten -  Motto: Ausbildung statt Bildung! – also gerade zum Gegenteil des Bildungsideals, das Wilhelm von Humboldt dereinst anstrebte.

 

Das führte u.a. in einem Schulaufsatz eines der zahlreichen Neffen Josefs über das Thema „Halbwissen“ zu dem Ergebnis:

 

0,5 Wissen + 0,5 Wissen = 1 Wissen

 

An dieser Stelle verfiel Josef v. H. in eine tiefe Depression, aus der er bis heute nicht aufgewacht ist. Alle Bemühungen seiner halbwissenden Ärzte reichten nicht aus, um ihn aus seiner Depression zu erwecken.

 

(11.6.2014)

 

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