„Ach wie flüchtig…“ – erweiterte Sinnfragen

 

 

Ronchamps, Chapelle Notre Dame du Haut - © Foto Alfred Rhomberg

 

Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
Ist der Menschen Leben!
Wie ein Nebel bald entstehet
Und auch wieder bald vergehet,
So ist unser Leben, sehet!
(Beginn der Bachkantate BWV 26)

 

Diese Kantate habe ich etwa 100 mal bewusst gehört und den Inhalt der Worte zunehmend als Faktum mit Einschränkungen akzeptiert. Wer diesen Text ohne weitere Nachfrage so akzeptiert, lebt eigentlich nicht wirklich, denn Leben heißt, die gegebene Flüchtigkeit mit Inhalten auszufüllen – sonst hätte Leben wohl keinerlei Sinn, auch nicht in Bezug auf den religiösen Hintergrund der Kantate, die ja nur eine Feststellung ist und auch im weiteren textlichen Verlauf (außer im Schlussteil, siehe unten) keine andere Antwort gibt als „Wer Gott fürcht’, bleibt ewig stehen“.

 

Die Sinnfrage ist sicher die Frage Nr.1 – sonst hätte sich die Philosophie nicht fast ausschließlich seit Menschengedenken mit dieser Frage beschäftigt. Allerdings hat die Philosophie seit der Antike (ebenso wie alle Religionen) die Frage grundsätzlich nur auf den Menschen, als einzig vernunftbegabtes Wesen, bezogen. Das zentrale Problem ist dabei stets die Frage, inwieweit frau/man dieses Leben mit Sinn ausfüllt und ob es von demjenigen, der es einem geschenkt (oder zugemutet hat) bestimmt wird. Da diese Frage ganze Bibliotheken ausfüllt, ist der Zweck dieses Beitrags sicher nicht, nach Antworten zu suchen. Einige repräsentative Ansätze, die sich grundsätzlich nur auf den Menschen beziehen, seien trotzdem nachfolgend kurz angerissen, bevor weitergehende Fragen gestellt werden.

 

In der Antike bestand der Sinn des Lebens im Wesentlichen in der Erlangung der Glückseligkeit (eudaimonía). Unterschiede in den philosophischen Schulen ergaben sich vor allem aus der Definition dessen, was unter Glück zu verstehen sei und der Art und Weise, wie man glaubte, dass dieses erreicht werden könnte. Hier gab es weitgehende Unterschiede z.B. zwischen dem Hedonismus (Epikur), der die Lust als Kernpunkt des menschlichen Sinnes sah und beispielsweise Sokrates, der im „Maßhalten“ durchaus ein Mittel verstand, Glückseligkeit möglichst lange zu genießen. Ansonsten gilt Sokrates durch seine Dialogkunst als einer der bedeutendsten Philosophen der Antike. Zudem war Sokrates nicht der Erste oder Einzige, der die menschlichen Belange in den Mittelpunkt seines philosophischen Denkens stellte.

 

Aristoteles: Der Mensch besteht aus dem Stoff, aus dem jetzt der menschliche Geist besteht (Form in einer Form).

 

Schopenhauer: Für ihn ist der Sinn des Lebens gleichbedeutend mit Leiden, da das Wollen des Menschen niemals dauerhaft zufriedenzustellen sei. Nur der ästhetische Genuss (Kunst, Musik etc.) könne den Menschen in einen Zustand der reinen Anschauung versetzen, in dem das Leiden aufgehoben ist.

 

Heidegger: Fragt man nach dem Sinn, dann deswegen, weil er verloren gegangen ist — ohne diese „Verlorenheit“ (Uneigentlichkeit) würde sich die Frage gar nicht erst stellen; es ist der Sinn einer jeden Frage, ihre Antwort zu finden.

 

Weitere Fragen an die Philosophie

 

Mein ich ist mit anderen „ich’s“ verknüpft und je länger ich lebe, desto mehr „ich’s“ sind mit meinem ich in einem engeren oder ferneren Zusammenhang vernetzt. Einige dieser ich’s gibt es nicht mehr – bestehen sie nur noch in der einseitigen Beziehung meines „ich’s“ zur Erinnerung an diese anderen ich’s oder ist die Welt ein riesiges Netz von „ich’s“ in der wir als „wir“ irgendwie verknüpft bleiben?

 

Hat ein Tier, eine Blume oder ein Stein keinen Sinn in unserem Universum?

 

Diese Frage ist der menschlichen Philosophie völlig fremd. Allenfalls bei Tieren können sich einige Wissenschaftler darauf einigen, dass diese vielleicht in dem Maße, als wir Tieren eine Art von Bewusstsein zuerkennen, zu einer Art von Sinnfragen fähig sein könnten.

 

Aus meiner Sicht hat jedes Atom, jedes Molekül irgendeinen Sinn. Wenn wir uns nur darauf beziehen, diesen Sinn derart zu hinterfragen, welchen Sinn diese Elementarbausteine für uns bzw. unsere Existenz haben, sind wir dann nicht etwas zu arrogante Bestandteile unseres Universums?

 

Was die Antworten zu diesen Fragen betrifft, stimme ich Heidegger (ausnahmsweise) zu: nämlich, dass der Sinn jeder Frage ist, eine Antwort zu finden. Nur weil wir solche Antworten noch nicht gefunden haben sind die oben gestellten Fragen deswegen noch nicht „sinnlos“.

 

Unser Leben bedeutet mehr als die (kurioserweise relativ geringe) Differenz der beiden nachfolgenden Textbruchstücke:

 

Gaudeamus igitur,
Juvenes dum sumus
Post jucundam juventutem,
Post molestam senectutem
Nos habebit humus!
(akademisches Studentenlied)

 

und:

 

Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
Sind der Menschen Sachen!
Alles, alles was wir sehen,
Das muss fallen und vergehen.
Wer Gott fürcht’, bleibt ewig stehen.
(Schlusstext der Bachkantate „Ach wie flüchtig….“ (BWV 26)

 

(Version 13.07.2012)

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