Das Einhorn

Einhorn - © Alfred Rhomberg

 

In der ganzen geschichtlich verfolgbaren Zeit taucht das Einhorn immer wieder auf – nur ich selbst habe noch keins gesehen. Daher musste ich eine meiner Fotografien aus der Camargue so verändern, dass der Leser weiß, von welchem Tier hier die Rede ist. Allerding bin ich auch keine Jungfrau, zu der Einhörner offenbar eine besondere Affinität haben. Es heißt, wenn sich eine Jungfrau am Waldrand niedersetzt, kommt das Einhorn und legt seinen Kopf in ihren Schoß und schläft ein.

Mich faszinieren solche Fabel- oder Nichtfabelwesen (immerhin gibt es noch 1975 eine Doktorarbeit von Pater Werinhard Einhorn mit dem Titel „spiritatis unicornis“) und auch im Mittelalter kannte Hildegard von Bingen offenbar dieses Tier.

Das Einhorn bedeutet für mich das Wünschbare (nicht unbedingt das Gewünschte), das für mich als Symbol nicht erfüllbarer Wünsche steht. Man kann sich diesem Tier oder Nichttier auch schlecht mit den modernen Kommunikationsmitteln nähern, obwohl es ca. 464580  Eintragungen in google unter dem Begriff „Einhorn“ aber interessanterweise nur 42000 für Zweihörner gibt, obwohl diese massenhaft herumlaufen. Wenn man dann die Zahl der Hörner in einer Recherche weiter ausdehnt, findet man in google für Dreihörner nur noch 8600 Eintragungen, für Vierhörner 4380, für Fünfhörner 382 und für Sechshörner gar nur noch 150 Eintragungen (hängt von der Eingabeform in google ab). Für den Analytiker ergibt sich also eine interessante mathematische Funktion: Zahl der Hörner -> Richtung unendlich gegen Null Eintragungen im World Wide Web.

Wenn ich sage, dass das Einhorn für mich das „Wünschbare“ bedeutet, so heißt dies nicht, ich wünschte mir unbedingt ein Einhorn – wäre es so, könnten plötzlich viele 100 liebe Freunde vor meiner Tür stehen und mir Einhörner bringen, mit denen ich dann nichts anfangen könnte! Nein - es handelt sich eben nur um ein Symbol des Wünschbaren und mit Symbolen kann man sehr viel mehr anfangen, sie sind platzsparend und müssen nicht gefüttert werden. Man sollte allerdings nicht auf die Idee verfallen, sich allzu wissenschaftlich damit zu beschäftigen – denn man würde dann feststellen, dass fast jeder bedeutende Philosoph oder Dichter etwas Anderes darunter versteht. Der aus dem Griechischen stammende Begriff "Symbol" – was kommt schon nicht aus dem alten Griechenland – heißt nichts anderes als etwas „Zusammengefügtes“, und so fügt halt jeder das zusammen, was er gerade zusammenfügen möchte. Goethe fasste das Symbol z.B. als „aufschließende Kraft“ auf (Licht für Geist und Erkenntnis). Das klingt gut, man sollte aber stets vorsichtig sein, was andere daraus machen, wie z.B. die Romantiker.

Nach Jaque Lacan (französischer Psychoanalytiker, 1901-1981), weist jede Symbolik einen Rest auf, der nicht symbolisierbar ist (?). Die Schriften von Lacan, der sich auch mit Kunst beschäftigte und mit zahlreichen Malern befreundet war, sind leider schwer lesbar. Er unterscheidet drei sogenannte „Register“: das Symbolische, das Imaginäre und das Reale. Von Lacan kommt man schnell zum „Borromäischen Knoten“, der durch drei mit einander verknotete Ringe dargestellt wird. Daraus ergeben sich viele „praktische“ Anwendungen, z.B. in der Psychoanalyse, in der die drei „Verfasstheiten der Psyche“ die Neurose, die Psychose und die Perversion bedeuten. Mein persönliches Verständnis der Psychoanalyse sagt mir, dass in diesem Wissenschaftsgebäude ein vierter Ring, nämlich das „Normale“ keinen Platz hätte (von „normalen“ Menschen – sofern es solche überhaupt gibt, könnte ja auch kein Psychiater leben).

Anm.: Auch in der katholischen Kirche gelten diese drei Ringe als ein Symbol für die Kirchengemeinde, die nur zusammenhält, wenn alle einig sind, weil sonst die ganze Gemeinschaft auseinander fällt. Ich kenne jedoch keine geschichtliche Periode, in der nicht irgendeiner dieser Ringe herausgefallen wäre – es sollte daher also eigentlich nie eine Kirchengemeinde gegeben haben.

Für mich ist und bleibt das Einhorn das Symbol des Wünschbaren (nicht unbedingt des Gewünschten, siehe oben).

 

(Version 27.10.2016)

 

 

"Kulturforum-Kontrapunkt" - Index/ HOME
Druckversion | Sitemap
Impressum: inhaltlich verantwortlich Dr Alfred Rhomberg, Der Name des Magazins "Igler Reflexe" sowie alle Inhalte unterliegen dem copyright von Dr. Alfred Rhomberg, bei Bildinhalten gilt das jeweilige copyright der Herkunftsquellen.