Die Leiden eines Schwerpunktes
Ein Schwerpunkt fühlte sich überfordert – nicht nur geistig, sondern vor allem physisch. Er hatte nicht damit gerechnet, was frau/man ihm alles aufbürden würde als er zum öffentlichen Schwerpunkt ernannt wurde. Manchmal kam er sich wie jene Steinwunder in South Dakota vor – also wie diese kleinen Felsen, die so große Steinriesen auf ihrer Spitze tragen können, ohne herunter zu fallen – ewig können sie das sicher nicht! Soweit wollte es der Schwerpunkt gar nicht erst kommen lassen – es musste gehandelt werden. Da auch öffentliche Schwerpunkte, obwohl sie in der Öffentlichkeit stehen, in Wahrheit ziemlich alleine sind, wandte er sich zunächst an die PolitikerInnen und Kirchen, die ihm in letzter Zeit einfach zu viel aufgebürdet hatten. PolitikerInnen machen nie etwas alleine, sie erklären alles zum zentralen Schwerpunkt und wenden sich dann ihren Popularitätswerten zu, Kirchen machen dagegen viel zu viel allein, unangenehme Angelegenheiten bürden sie dann aber doch irgend einer Schwerpunktkommission auf – und wieder lastet alles auf dem öffentlichen Schwerpunkt. Zuviel ist zuviel – dem Schwerpunkt blieb nichts anderes übrig, als sich an die zuständige Schwerpunktgewerkschaft zu wenden – doch auch diese Organisation hatte derzeit andere Schwerpunkte und war froh, einen Großteil davon auf den überlasteten Schwerpunkt abwälzen zu können – und überhaupt: ohne eine exakte Beschreibung bzw. Schwerpunktbestimmung könne sie leider nichts – wirklich gar nichts unternehmen!
Der Schwerpunkt musste sich jetzt auch noch mit der – seiner Meinung nach unsinnigen Schwerpunktsbestimmung – befassen, so z.B. mit dem folgenden Satz aus einem Lehrbuch:
„Bei näherer Betrachtung weist der Begriff des Schwerpunkts eine komplexere Struktur auf als man von der intuitiven Anschauung her (unter vereinfachenden Bedingungen wie konstanter Schwerkraft und homogener Dichte) erwartet. Der Gesamtschwerpunkt einer Ansammlung lässt sich oft aus der gewichteten Summe der ihrer Schwerpunkte ermitteln, bzw. der Subsysteme, die so gewählt werden, dass ihre Schwerpunkte leicht zu bestimmen sind. Falls das nicht geht (z. B. bei unregelmäßig geformten Körpern), wird er als das erste Moment der Verteilungsfunktion der Wichte dieser Ansammlung im Raum, normiert auf das Gesamtgewicht berechnet“.
Dann folgten noch einige mathematische Formeln, die der Schwerpunkt aufgrund seiner inflationären Schulbildung nicht mehr verstand. Er schrieb sofort einen Brief an den zuständigen Unterrichtminister und machte auf diesbezügliche Bildungsmängel aufmerksam. Wider Erwarten erhielt er relativ bald eine Antwort des derzeit ebenfalls überlasteten Ministers, dessen Kernaussage den Schwerpunkt erschreckte:
….unser Ministerium wird sich gerne mit Ihrem Vorschlag befassen und ihn zu einem wichtigen Schwerpunkt künftiger Bildungspolitik machen….gezeichnet, der Minister für Unterricht…usw.
Der Schwerpunkt wusste nun, was in absehbarer Zeit auf ihn zukommen könnte – er hoffte nur, dass Schwerpunktsthemen, wie in Ministerien üblich – schnell im Papierkorb landen. Ob der bis an die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit belastete Schwerpunkt nicht auch von dieser Methode Gebrauch machen könnte?
(Version 1.3.2013)