Der Sturz vom Hochhaus (Kurzfassung)

(weiter unten die "literarische" Langfassung "Herabspringen")

 

 

herabspringen III - © Alfred Rhomberg

 

 

Ich stürzte von der obersten Kante eines Hochhauses – nur so! Theoretisch weiß ich natürlich wie so etwas ausgeht, praktisch allerdings nicht – ich hatte so etwas ja noch nie gemacht. Da ich auch im Freundeskreis niemanden fand der so etwas schon einmal versucht hatte, musste ich meine eigenen Erfahrungen machen. Ich hatte den Sturz nicht lange vorgeplant und mir auch keine Gedanken über den Gesamtablauf gemacht. Zuerst überlegte ich mir während des Sturzes (nach ca. 2-3 Stockwerken), ob ich in der Folge nun immer schneller fallen würde – da ist es gut, wenn man seinen Schulabschluss vor PISA gemacht hatte – ja, die Geschwindigkeit würde sich drastisch erhöhen, sogar die Formel kannte ich noch – leider galt diese nur für einen Fall im Vakuum. Da Hochhäuser normalerweise nicht im Vakuum stehen, musste ich den Luftwiderstand berücksichtigen, trotzdem nahm die Geschwindigkeit beängstigend zu - das würde auch nach PISA noch gelten, nicht jedoch, dass die Erdrotation und die Erdabplattung ebenfalls eine Rolle spielen, wie ich mich in einem Feldversuch bei der Befragung junger SchülerInnen überzeugen konnte. Gut – die Erdabplattung wäre nun wirklich kein Bildungsziel, aber, dass die höchste Geschwindigkeit, die jemals von einem Menschen im freien Fall erreicht wurde 988 km/h betrug, ist laut Wikipedia schon seit 1960 bekannt und steht trotzdem nicht im Guinnessbuch der Rekorde – so etwas sollte frau/man in unserer rekordsüchtigen Zeit schon wissen! Vielleicht stünde es drin, wenn es sich statt 988 km pro Stunde um 988 km pro Sekunde gehandelt hätte – dies wäre eventuell ein Tip für die nächste „Wetten dass…“ Sendung. Ich hatte jetzt jedoch andere Sorgen, denn mir fiel ein, dass ich zuhause die Kochplatten zur Bereitung eines Gulyás (auf englisch Goulash) nicht abgestellt hatte. Ich musste mein Experiment kurz vor dem Aufprall daher abbrechen und würde es zu gegebener Zeit wiederholen. 

 

Eines stand jedenfalls fest – bei einem Wettbewerb mit anderen vom Hochhaus Herabspringenden, würde ich mit einer sportlichen Skyspringerkleidung antreten, weil die Luftreibung vor und nach PISA eine wichtige Rolle spielt.

 

(Erstfassung 13.4.2012, redigiert 2.5.2019)

 

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Herabspringen

(meine etwas längere „literarische“ Fassung, die jetzt aus einem inzwischen aufgelassenen Fremdmagazin übernommen wurde)

 

 

Niemand ist für seine Existenz die als „menschliches“ Sein auf dieser Welt vorgesehen ist, selbst schuld – und niemand kann etwas für seine Gedanken, diese Existenz in Frage zu stellen und sie geistig oder tatsächlich zu beenden.

 

Einzelheiten zum Tathergang

Josef stieg die Treppen bis ins 30. Stockwerk eines Hochhauses mit der Absicht hinauf, sich von dort oben hinunter in die Tiefe zu stürzen. Es gab keinen besonderen Grund dafür – außer, dass er das noch nie versucht hatte und es alle anderen auch taten. Tatsächlich war das Herabspringen von Hochhäusern zu einer Art Mode geworden. Er wusste, dass es keine Möglichkeit gab, dies zu überleben, sah er doch bevor er das Hochhaus betrat, wie andere, die vor ihm von oben herabgesprungen waren, von vorsorglich bereitgestellten Rettungswagen abtransportiert wurden – dorthin wo das Sein jegliche Existenz verliert. Wer im freien Fall in die Tiefe stürzt - so wird behauptet - würde das ganze Leben noch einmal vorüberziehen sehen, wollte Josef das wirklich? Genau betrachtet wollte er das nicht – fast nicht, doch zogen ihn von jeher Grenzlinien des Lebens magisch an. Es gab viele glückliche Momente in seinem Leben, die er noch einmal hätte durchleben wollen, es gab jedoch auch Tiefpunkte, die er nicht mehr zu durchleiden bereit war. Josef benützte bewusst nicht den Lift des Hochhauses, sondern erklomm die fast unendlich vielen Treppenstufen und war inzwischen im 27. Stockwerk angelangt. Stufe um Stufe erinnerte er sich mehr und mehr an sein Leben. Er war froh, nicht den Lift benutzt zu haben - die kurze Aufwärtsfahrt hätte ihm nur wenig Spielraum für seine Erinnerungen gelassen. Im 29. Stockwerk angelangt, erinnerte er sich plötzlich an den Tod seiner Frau – das war fast unerträglich und unwillkürlich verlangsamte er seine Schritte. Bis ins 30. Stockwerk waren es immerhin noch fast 25 Stufen, würde er diese und schließlich die allerletzte Stufe durchhalten? Jeder muss sein Ende hinnehmen, so wie alle die anderen auch, die von den Rettungswagen bereits weggefahren worden waren – es gibt Orte des Lebens und solche des Todes. Fast glücklich erreichte er jetzt das 30. Stockwerk und sprang in die Tiefe in der Hoffnung, er würde vielleicht zwischen dem 20. und 5. Stockwerk noch einmal die Glücksmomente seines Daseins erleben können. Unten war wieder ein Rettungswagen extra für Josef vorgefahren, der ihn zu den anderen nicht mehr Seienden brachte. Andere hatten den Lift des Hochhauses benutzt und stürzten sich sofort in die Tiefe – es ist nicht sicher, ob ihr Ende glücklicher als dasjenige von Josef war.

 

Der Sturz in die Tiefe – Medienpräsenz und wissenschaftliche Deutung

 

Die Medien waren weniger am Sturz Josefs, als an der Medienwirksamkeit des Herabspringens interessiert, welches seit einiger Zeit als eine Art Zeitgeistsyndrom und Variante des klassischen Werther-Effekts in aller Munde war.

 

Nach einem Bericht von Augenzeugen, die sich im 30. Stockwerk des Hochhauses - aus welchen Gründen auch immer - aufhielten, hatten mehrere nicht ganz zufällig  anwesende Reporter Josef kurz vor seinem Sprung in die Tiefe eine größere Summe angeboten, wenn sie seinen Sturz filmen durften, worauf Josef antwortete, das nütze ihm jetzt nichts mehr, was den Reportern einleuchtete. Sie wechselten ihr Angebot in dem Sinne, dass sie Josef die gleiche Summe dafür versprachen, wenn er nicht hinunterspränge. Reporter können aus allem eine Story machen, selbst wenn es nur ein Bericht über das menschliche Versagen oder die Korrumpierbarkeit des Menschen geworden wäre. Sie hatten sich jedoch in Josef getäuscht, Josef blickte kurz nach oben und sprang dann in die Tiefe. Den Reportern war das recht - so brauchten sie die angebotene Summe nicht auszuhändigen und konnten trotzdem den Absturz live filmen. Sie hatten sich jedoch in Josef ein zweites Mal geirrt. Dieser hatte kurz vor seinem beschlossenen Sprung eine Verfügung bei einem Notar hinterlegt, dass gegen diejenigen, die seinen Sprung filmten, ein Gerichtsverfahren angestrengt werden solle, welches im Falle des zu erwartenden Schuldspruchs, die Reporter oder deren Auftraggeber dazu verurteilte, eine beträchtliche  Summe Geldes an eine karitative Organisation zu zahlen.

 

Der Prozess

 

Was den „Fall Josef“ (so die juridische Formulierung) betraf, so ergab sich ein langwieriges juridisches Verfahren. Zwar gibt es posthum Verurteilungen bereits Verstorbener – wenn auch nur symbolisch: ein solcher Prozess wurde u.a. vom ehemaligen Ministerpräsidenten Spaniens Zapatero gegen Francisco Franco wegen dessen grausamer Handlungen im Franco-Regime angestrengt. Anders ist es bei der Anklage bereits Verstorbener gegen lebende Personen, sofern sie nicht als deren Mörder in Frage kommen – im letzteren Fall ermittelt die Staatsanwaltschaft bekanntlich ohnehin. Der Strafanwalt hatte es im „Fall Josef“ nicht leicht, denn einerseits hatte er ein Mandat durch den hinterlegten Willen des Selbstmörders und sogar etliche Augenzeugen, welche das ganze Geschehen detailliert bezeugen konnten, andererseits jedoch keinen Kläger im physischen Sinn.

 

Wissenschaftliche Aufarbeitung

 

Aus Sicht der Wissenschaft ergaben sich vielschichtige Probleme mit Josefs Sturz. Josef hatte sich – wo immer er sich jetzt befand – schon gefragt, warum niemand den Ursachen seines Sprunges nachging und freute sich möglicherweise posthum (allerdings sicherlich nur kurz), dass sich nun eine ganze Schar von WissenschaftlerInnen offenbar seiner annahm. Hier irrte Josef, Wissenschaftler nehmen sich selten des Menschen als Person an – ihnen genügt das Allgemeine der Phänomene ihrer Wissenschaft, wobei die Person „Josef“ völlig in den Hintergrund trat – es ging einzig um das Zeitgeistsyndrom des Herabspringens, das in letzter Zeit in Mode gekommen war.

 

Parallel zu dem langwierigen Prozess meldeten sich zunächst LiteraturwissenschaftlerInnen zu Wort: literaturwissenschaftlich gäbe es keinen Zusammenhang mit dem Briefroman Goethes „Die Leiden des jungen Werther(s)“. Anm.: das Genitiv „s“ hatte Goethe beim Erscheinen auf der Leipziger Buchmesse 1774 bereits weggelassen.

Ein Zusammenhang bestünde aus Sicht der Literaturwissenschaft schon deswegen nicht, weil es sich in Goethes Briefroman um eine nachvollziehbare, zwar fiktive, vermutlich jedoch autobiografische Geschichte handelte, während Josefs Sturz keinerlei nachvollziehbare Ursachen zu Grunde lagen, da es sich beim „Herabspringen“ um eine zeitgenössische Modeerscheinung handele, die wie alle Modeerscheinungen, letztlich unbegründbar seien.

 

Sprachwissenschaftler stritten sich über die Problematik, ob im „Fall Josef“ der Begriff „suizid“ aus dem Neulateinischen suicidium, oder richtiger aus dem Griechischen „autocheira“ (das willentliche Beenden des eigenen Lebens) abgeleitet werden solle, wobei letzteres nach Anhören der Augenzeugen geeigneter zu sein schien. Im Endeffekt bedeuten beide Ausdrücke zwar das Gleiche, erklären jedoch nicht einwandfrei, ob es sich – wie im Fall Josef - tatsächlich um ein willentliches Beenden handelte – was wiederum zu der Problematik führt, ob der Mensch überhaupt einen freien Willen hat.

 

Modern denkende Theologen diskutierten, ob nicht auch Jesus Christus selbstmörderisch gehandelt habe, da er sich freiwillig dem Gericht stellen wollte – eine fast blasphemische Diskussion mit der möglichen Gefahr, exkommuniziert zu werden. Die Philosophen führten Sokrates an, der ja ebenfalls die Möglichkeit zu fliehen gehabt hätte, jedoch aus Ehrfurcht vor dem Gesetz den Schierlingsbecher trank. Jesus und Sokrates seien keinesfalls miteinander vergleichbar, so andere Gelehrte, weil es sich beim freigewählten Tod Jesu um eine Glaubenswahrheit handele, über die grundsätzlich nicht diskutiert werden könne, Sokrates jedoch einem Gesetz folgte, welches er zwar respektierte, dem jedoch kein Gottesauftrag zu Grunde lag.

 

Soziologen stritten sich darüber, ob nicht die Gesellschaft insgesamt schuldhaft wäre und verglichen die Selbstmordraten innerhalb Europas, während sich die Psychiater und Psychologen sogar verbal über ein mögliches „kollektives“ Borderline-Syndrom attackierten, wobei verbale Attacken in diesen Wissenschaften allerdings von jeher üblich waren.

 

Josef als „Nichtmehrdasein“ hätte vermutlich empfohlen, sich medialen Berichterstattungen zu diesem Thema grundsätzlich zu enthalten und Expertenrunden als das zu betrachten, was sie sind – ein von einem Fernsehsender schnell zusammengetrommelter Haufen von WissenschaftlerInnen, die über alles was sie während ihres Studiums gelernt hatten, Meinungen äußern, obwohl sie selbst nie von einem Hochhaus herabgesprungen waren.

 

Schade, dass es Goethe nicht mehr gab, dem sicher ein dramatisches Werk mit einem Protagonisten Josef eingefallen wäre, auf dessen Grundlage der „Fall Josef“ 200 Jahre später im Geist des modernen Regietheaters durch die eigenständige Phantasie von RegisseurInnen einer abschließenden Deutung zugeführt worden wäre.  

 

19. 5. 2019

 

 

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