Sakrilege  - eine Kritik der Poesie

 

Signatur von Wolfgang von Goethe - © Wikipedia, Public Domain

 

 

Goethe zu kritisieren kommt einem Sakrileg gleich und kam in meiner Schulzeit gleich nach Mord. Heute mache ich mich dieses Sakrilegs gelegentlich schuldig, obwohl ich Goethe hin und wieder gerne lese.

 

„Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen: Es grünten und blühten 
Feld und Wald; auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken
Übten ein fröhliches Lied die neu ermunterten Vögel;
Jede Wiese sprosste von Blumen in duftenden Gründen,
Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde“.  etc.

 

Wer den Beginn dieses ersten Gesanges aus „Reineke Fuchs“ (Goethe) liest, könnte es vielleicht nach diesen Zeilen aufgeben, irgendetwas eigenes zu schreiben. Das klingt entmutigend – nach einer genaueren Analyse schwindet (zumindest bei mir) die übertriebene Ehrfurcht – nicht vor Goethe, aber vor diesen Zeilen – warum?

 

Die Sprachmelodie bzw. der Sprachrhythmus ist zugegebenermaßen untadelig – Hexameter lassen sich gar nicht anders als untadelig schreiben, der kleinste Sprachstolperer würde einen ganzen Vers kaputt machen – Goethe beherrschte sein Handwerk. Die Sprache ist schön, die Bilder werden genau beschrieben, Metaphern, die zum Nachdenken anregen, gibt es (in diesen Zeilen) nicht – es wird alles „richtig“ und erbaulich beschrieben – man braucht nur in die Landschaft zu schauen und es stimmt alles (außer in Grönland und einigen anderen Orten dieser Erde).

Und nun ein Vergleich mit einem ganz anderen Text, z.B. dem Beginn des zweiten Teils aus Ovids Metamorphosen (die Weltalter, 2. Buch)

 

Erst entsproßte das goldne Geschlecht, das, von keinem gezüchtigt,
Ohne Gesetz freiwillig der Treu und Gerechtigkeit wahrnahm.
Furcht und Strafe war fern. Nicht lasen sie drohende Worte
Auf dem gehefteten Erz; nicht bang vor des Richtenden Antlitz
Stand ein flehender Schwarm: ungezüchtiget waren sie sicher.
Nie vom eignen Gebirg’, um der Fremdlinge Welt zu besuchen,
Stieg die gehauene Fichte hinab in die flüssige Woge:
Außer dem ihrigen kannten die Sterblichen keine Gestade.
Noch umgürteten nicht abschüssige Graben die Städte.

etc.

 

Dies ist eine deutsche Übersetzung, die dem lateinischen Text vielleicht nicht ganz gerecht wird – trotzdem, Ovid verwendet Bilder über die man nachdenken muss: z.B. „Stieg die gehauene Fichte hinab in die flüssige Woge/ Außer dem ihrigen kannten die Sterblichen keine Gestade…“(?)

 

Oder: Dante Alighieri – Der Beginn von „Hölle“ (aus der göttlichen Komödie)

 

Es war in unseres Lebensweges Mitte,
Als ich mich fand in einem dunklen Walde;
Denn abgeirrt war ich vom rechten Wege,
Wohl fällt mir schwer, zu schildern diesen Wald,
Der wildverwachsen war und voller Grauen
Und in Erinnrung schon die Furcht erneut:
So schwer, dass Tod zu leiden wenig schlimmer…

etc..

 

Gegenüber solchen Zeilen schrumpft Goethe ein wenig auf einen Dichter seiner Zeit zurück, was er zu seiner Ehre gesagt, bei weitem nicht war. Um letzteres zu entdecken brauchte es nur, spätere Gedichte der Romantik zu lesen, die fast ausschließlich „erbaulich“ waren und damit den Geschmack des Bürgertums trafen. „Denken“ war nicht erforderlich, „fühlen“ nur in dem Sinne, dass Dichter der Romantik das fühlen ließen, was ohnehin jeder fühlte – jedoch nur mit schöneren/erbaulicheren Worten aussprachen (diese Kritik ist vermutlich ein zweites Sakrileg).

 

z.B. Eduard Mörike: Abreise

 

Fertig schon zur Abfahrt steht der Wagen, 
Und das Posthorn blaest zum letztenmale. 
Sagt, wo bleibt der vierte Mann so lange? 
Ruft ihn, soll er nicht dahinten bleiben! 
- Indes faellt ein rascher Sommerregen; 
Eh man hundert zaehlt, ist er vorueber; 
Fast zu kurz, den heissen Staub zu loeschen; 
Doch auch diese Letzung ist willkommen. 
Kuehlung fuellt und Wohlgeruch den weiten 
Platz und an den Haeusern ringsum oeffnet 
Sich ein Blumenfenster um das andre… 

etc.

 

Gute Lyrik ist nicht einfach „nur“ erbaulich, sie soll den Leser in eine andere Gedankenwelt versetzen, in dem sie ihren Inhalt nicht wie eine Speisekarte serviert, sondern versucht, Emotionen hervorzurufen, wobei Metaphern besonders geeignet sind. Und wenn das trotzdem nicht gelingt, gerät man zumindest in eine andere Ideenwelt – in seine eigene – auch kein Fehler!

 

Und wie schneidet die zeitgenössische Lyrik ab?

 

Hierzu zunächst eine kleine der Wikipedia-Enzyklopedie entnommene Statistik:

 

„Anlässlich des Welttages der Poesie am 21. März 2005 hat die  Deutsche Presse-Agentur eine repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben, die für Deutschland den Bezug zur Lyrik in der Bevölkerung messen sollte. Das Meinungsforschungsinstitut „polis“ ermittelte:

 

Jeder zweite Deutsche hat mit Lyrik wenig im Sinn und schon länger kein Gedicht mehr gelesen;

58 Prozent der Männer waren lange nicht mehr mit Gedichten in Kontakt gekommen;

43 Prozent der Frauen sind Verächterinnen, 40 Prozent geben sich als aktuelle Leserinnen von Versen.

 

In der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen hatten 63 Prozent schon länger keine Lyrik mehr gelesen“.

 

Die Zahl der jungen LeserInnen wird weiterhin abnehmen – nicht wegen mangelnder Qualität zeitgenössischer Lyrik (die wäre mehr als gegeben), sondern weil der Literatur im Allgemeinen und der Lyrik im Speziellen in den höheren Schulen immer weniger Platz eingeräumt wird. Die Vorstellung „Gedichte“ auswendig zu lernen ist für SchülerInnen unserer Zeit so absurd, dass hier nicht weiter darauf eingegangen werden muss. Dabei fand der Zugang zur Poesie in erster Linie in den früheren Jahren von Hauptschulen und Gymnasien statt, außerdem beweisen neuere Studien der Hirnphysiologie, dass das „Auswendiglernen“ von Texten der Formatierung des Gehirn sehr zuträglich ist.

 

Was ist das Besondere der zeitgenössischen Lyrik?

 

Im Gegensatz zu Lyrikbeispielen vergangener Jahrhunderte, unterscheidet sich moderne Lyrik von der Prosa oft nur noch durch die äußere Form, weil früher notwendige Merkmale der Lyrik wie Reim, Metrik und Form immer mehr im Hintergrund stehen. Allerdings findet man auch bei Goethe bereits „freie“ Formen, d.h. Gedichte ohne Reimschema (in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts als „verse libre“ bezeichnet und kultiviert). Heute spielen andere Formelemente wie z.B. die graphische Gestalt (Figurengedichte) und natürlich Metaphern eine wesentliche Rolle, wobei Metaphern, wie an den obigen Beispielen gezeigt wurde (Dante Alighieri oder in Ovids Metamorphosen), auch früher ein Zeichen qualitativ hochwertiger Dichtung waren. Es mag sein, dass die verwendeten Metaphern heute oft „komplizierter“ sind – darin liegt aber auch eine gewisse Gefahr: wenn Metaphern nicht mehr zum Nachdenken anregen und die LeserInnen sie nicht nachvollziehen können, entstehen jene gekünstelte moderne lyrischen Texte, welche die zeitgenössische Lyrik gelegentlich in Verruf bringen.

 

Wie in jeder Kunstform besteht heute auch in der Lyrik die Gefahr, sich bewusst jeder Dogmatik zu entziehen. JedEr KünstlerIn sollte zwar einen eigenen kreativen Stil entwickeln – aber ohne Angst, gelegentlich dogmatische Elemente anzutasten. In der zeitgenössischen Musik ist es – im Gegensatz zur Musik nach 1960, inzwischen wieder gelungen, gelegentlich melodische (und harmonische) Elemente in neue Kompositionstechniken einzubinden, ohne dass dies als „altmodisch“ abgetan wird.

 

 

(Version 12.9.2014)

 

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