Die Industriegesellschaft unter Berücksichtigung vorindustrieller Strukturen

 

 

(c) Wikipedia - Urheberschutz abgelaufen (Die BASF -"Badische Anilin und Sodafabrik", Werk Ludwigshafen 1881)

 

Die oft zitierte Trennung von Kapital und Arbeit wurde nicht erst durch das Aufkommen der Industrie im späten 18. und im 19. Jahrhundert eingeleitet – dieser Gegensatz bahnte sich bereits wesentlich früher, nämlich im Mittelalter an. Durch die Stadtgründungen in Oberitalien, der Schweiz, in bestimmten Regionen Österreichs, Frankreichs und insbesondere in Deutschland verdankten fast alle Patrizierfamilien des Mittelalters ihren Reichtum dem kaufmännischen Handel, Einheiraten in noble Familien und den damit verbundenen Netzwerken. In der Folge kam es daher in den mittelalterlichen Städten sehr schnell zu arbeitsteiligen Gesellschaften von Meister- und Gewerbebetrieben sowie Manufakturen als Vorläufer der späteren Industriegesellschaften. Die Landesfürsten standen wegen ihres aufwendigen Lebensstiles häufig in der Schuld der großen Handelshäuser, als Beispiele für Geldgeber sollen hier nur die Augsburger Familien der Fugger und Welser angeführt werden, deren Faktoreien bereits über ganz Europa verteilt waren und die zunächst mit Textilhandel begannen, später jedoch wegen der immer wichtiger werdenden Metalle u.a. die Schürfrechte der bedeutendsten Bergwerke durch Geldleihen an die Fürsten erhielten. Die Fugger kontrollierten z.B. den gesamten Silber- und Metallhandel durch die Schürfrechte in Schwaz/ Tirol. Daneben war der Salzhandel, der Gewürzhandel und der gesamte Handel mit asiatischen Produkten eine der wichtigsten Einnahmequellen der Handelshäuser, was insbesondere in den Hansestädten bereits im Mittelalter zu einer Art vorindustrieller Strukturen führte (Handelshäuser, Banken, Börsen, Schiffbaugesellschaften und die durch reiche Familien geförderten Meisterbetriebe aller Art). Ähnlich entwickelten sich auch andere Städte, gerade in den mittelalterlichen Städten war die Trennung von Kapital und Arbeit daher noch kein wesentliches Thema, weil durch Gewerbe und Faktoreien eine diversifizierte Arbeitswelt entstand, die breiteren Schichten der damaligen Bevölkerung einen gewissen Wohlstand ermöglichte. Allerdings kam es durch Besitz- bzw. den damit verbundenen Machtstreitigkeiten auch zu Rivalitäten der reichen Städte (und damit der Fürstenhäuser) – eine Entwicklung, die weit in das 20. Jahrhundert reichte.

 

Außerhalb der Städte lebten die Bauern und Landarbeiter als Versorger der Städte. Sie waren vom Reichtum der Stadtbewohner weitgehend abgekoppelt und zudem, je nach Region „Leibeigene(1)“. Anzumerken ist, dass auch im Spätkapitalismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland noch über 90 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig waren, die außer einigen Gutsherren, gleichfalls vom Wohlstand der inzwischen wesentlich größeren Städte abgekoppelt waren.

 

Die Industrialisierung

 

Es ist üblich, den Beginn der Industrialisierung mit dem Maschinenzeitalter – insbesondere mit der Erfindung der Dampfmaschine(2) in Verbindung zu bringen – tatsächlich machten die Dampfmaschinen und die späteren Dieselmotoren und Elektromotoren die Industrialisierung erst möglich – dabei sollten jedoch andere Aspekte nicht außer Acht gelassen werden:

Die Weltbevölkerung hatte sich seit dem Mittelalter aufgrund besserer Lebensumstände der durch die mittelalterliche Gesellschaft geschaffenen Werte bzw. der verbesserten Ernährungssituation stetig erhöht(3). Gab es auf der Erde um Christi Geburt nach Schätzungen nur ca. 300 Millionen Menschen, so waren es um 1650 bereits eine halbe Milliarde und um 1900 ca. 1,6 Milliarden. Der Bevölkerungszuwachs hatte sich also insbesondere seit den Städtegründungen des Mittelalters durch bessere Lebensverhältnisse bereits vor Beginn der Neuzeit (um 1500) ohne moderne „Industrialisierung“ drastisch erhöht. Von der Landbevölkerung abgesehen, der es auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch relativ schlecht ging, darf bereits in den mittelalterlichen Städten von einer Art „Ausgleich“ zwischen arm und reich ausgegangen werden, der insgesamt zu dem kulturellen Aufschwung der folgenden Jahrhunderte in allen Handwerks-, Kultur- und Wissenschaftsbereichen führte.

 

Was hat die Industrialisierung im 19. Jahrhundert seither verändert?

 

Die Industrialisierung muss als sich selbst verstärkender Prozess aufgefasst werden. Die durch die Erfindung der Maschinen erhöhte Produktivität führte zu einem relativ breiten Bürgertum, das ähnlich wie in den mittelalterlichen Städten am Aufschwung teilnahm und dadurch in der Lage war, die produzierten Güter zu kaufen und dadurch weitere Produktivitätssteigerungen förderte.

 

Da zu Beginn der Industrialisierung nur geringe Fachkenntnisse bei den in den Fabriken beschäftigten ArbeiterInnen erforderlich waren und die Arbeitskräfte meist aus den niedersten Schichten der Landarbeiterschaft rekrutiert wurden, kam es zu jenen Auswüchsen, die wir heute als “Kapitalismus” bezeichnen. Die Arbeitskräfte der neuen Industrien waren oft aus der Leibeigenschaft entlassene Menschen der ländlichen Regionen und obwohl die Leibeigenschaft in den meisten Ländern im 18. und 19. Jahrhundert aufgrund der Aufklärung zunehmend abgeschafft wurde, entstanden in der Industrie Strukturen, die einer Leibeigenschaft recht ähnlich waren: weitgehende Rechtlosigkeit, keine Kranken- oder Altersversorgung – ArbeiterInnen waren jederzeit mühelos ersetzbar. Dies änderte sich langsam durch den zunehmenden Bedarf an ausgebildeten FacharbeiterInnen in der sich immer stärker spezialisierenden Industrie. Die Einführung von Arbeitslosen- und Krankenversicherungen (die wesentlich durch den deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck in Deutschland initiiert und in Österreich und der Schweiz unmittelbar übernommen wurden) waren jedoch nicht nur ein humanitäres Anliegen der Gesellschaft, insbesondere Krankenversicherungen wurden in dem Maße immer notwendiger, als die Industrie gut ausgebildete Arbeiter- und FacharbeiterInnen benötigte und erkrankte MitarbeiterInnen nicht mehr einfach ihrem Schicksal überlassen werden konnten. Es ist anzunehmen, dass die Verbesserungen im Arbeitsleben durch den Sozialismus beschleunigt wurden, es wäre vermutlich jedoch auch ohne Sozialismus und Marxismus aus den genannten Ursachen zu Verbesserungen gekommen, da sich der Kapitalismus aus reinen „Nützlichkeitserwägungen“ wohl kaum ohne eine ausgebildete Arbeiterschaft hätte weiter entwickeln können.

 

Die Industrialisierung im 20. Jahrhundert

 

Trotz der vielen Krisenjahrzehnte im 20. Jahrhundert hatte Industriearbeit einen großen Teil ihres Schreckens verloren. Zunehmend wurden besonders nach 1950 Akademiker, Ingenieure und immer besser ausgebildete Arbeiter- und FacharbeiterInnen gebraucht, deren Lebensbedingungen sich nicht zuletzt durch die Gewerkschaften bis fast zur sozialen „Überversorgung“ erheblich verbesserten(4). Die großen Industriegesellschaften entwickelten zunehmend sogar kulturelle Anreize für ihre ArbeitnehmerInnen (Beispiele: Feierabendhaus der BASF, Jahrhunderthalle Hoechst bei Frankfurt etc.). Während Konzerte oder andere kulturelle Veranstaltungen industrieller Einrichtungen in Deutschland eher AkademikerInnen oder höherrangigen Angestellten zugänglich waren, hatte die Mutterfirma von BBC(Brown Boveri & Cie, Schweiz) ihr Kulturhaus in Baden von Anfang an für alle MitarbeiterInnen geöffnet. Diejenigen die sich zuerst um Veranstaltungskarten bemühten, erhielten diese unabhängig vom „hierarchischen Rang“. Dass sich dabei eher höhere Angestellte für solche Veranstaltungen interessierten, war bildungsbedingt – jedenfalls hatten im Gegensatz zur BBC-Tochterfirma im Nachkriegsdeutschland auch einfache ArbeiterInnen die Möglichkeit, solche Veranstaltungen zu besuchen).

 

Während Arbeiter- und FacharbeiterInnen ab etwa der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts meist als Angestellte oder „Werksangestellte“ mit ihren industriellen Arbeitgebern im allgemeinen zufrieden waren, verschlechterte sich die Situation für AkademikerInnen gegenüber den Gründerjahren der Industrie zunehmend. Im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten AkademikerInnen erheblich größere Denkspielräume und höhere Gewinnbeteiligungen bei wirtschaftlich erfolgreichen Patentierungen. Zwar verbesserten sich ab etwa 1960 auch bei dieser Angestelltenschicht die jährlichen Einkünfte, Gewinnbeteiligungen wurden jedoch selbst bei sehr erfolgreichen Patenten so niedrig angesetzt, dass sie kaum mehr ins Gewicht fielen. Die Denkspielräume und „Forschungswiesen“ wurden zunehmend eingeengt oder abgeschafft. Ab etwa 1970 stellte sich bei vielen AkademikerInnen eine gewisse Unzufriedenheit ein, die sich letztlich für die Unternehmen ungünstig auswirkte, auch wenn die Firmenleitungen dies oft zunächst nicht wahrnahmen, später jedoch auf unterschiedliche Weise etwas auszugleichen versuchten. Die Gleichstellung von FacharbeiterInnen und AkademikerInnen, die sich in sehr geregelten und von den Gewerkschaften überwachten Arbeitsszeiten niederschlugen, waren für Spitzenkräfte oft sehr entmutigend, zumal aufgrund der flexiblen Arbeitszeit, unabhängig von den Vorteilen einer etwas freieren Zeiteinteilung, akademisch gebildete MitarbeiterInnen exakt an den von den Gewerkschaften und Berufsgenossenschaften offiziell geforderten Arbeitstag von maximal 10 Stunden pro Tag gebunden waren, der früher freiwillig meist überschritten wurde. Fortan wurde der Arbeitstag ohne Leistungsvergütungen bzw. Überstundenregelungen zuhause weitergeführt. Versuche der Firmen, dies durch meist geringe Einmalzahlungen an sogenannte „Leistungsträger“ erträglicher zu machen, hatten oft nicht den gewünschten Erfolg, weil „akademische Freiheiten des Kommen und Gehens“ (oft durch einen stechkartenartigen Zeitnachweis, der früher nur für ArbeiterInnen üblich war) unmöglich wurden. In den wirtschaftlichen Rezessionsjahren nach 1990 wurden erstmalig auch AkademikerInnen entlassen.

 

Was erwartet uns im 21. Jahrhundert?

 

Das 21. Jahrhundert steht für alle in der Wirtschaft Beschäftigten für die nächsten Jahre unter keinem guten Stern, selbst wenn die Rezession in den Industrienationen derzeit insgesamt überwunden zu sein scheint. Teilzeit- und befristete Arbeitsverträge, Unsicherheiten bei Firmenübernahmen betreffen akademische wie nichtakademische Mitarbeiter gleichermaßen. Eine Beschäftigungssicherheit wie in den ersten Nachkriegsjahrzehnten wird es nicht mehr geben. Für AkademikerInnen wird der Wechsel nach dem Hochschul/Universitätabschluss in die Industrie aus mehreren Gründen psychisch belastender als in der Nachkriegszeit. Die hohe Anzahl an StudienabgängerInnen führt zu einer hohen Bewerberzahl für alle Stellenausschreibungen und die ursprünglich anvisierten bzw. favorisierten Berufsvorstellungen müssen oft aufgegeben werden, d.h. jedEr muss sich auch mit weniger zufriedenstellenden Stellen abfinden. Zusätzlich werden alle Denkfreiräume aufgrund der weiterzunehmenden Spezialisierung noch weiter eingeschränkt und die Realität der industriellen Arbeitswelt weicht immer mehr von den in den letzten Jahrzehnten an den Hochschulen propagierten, etwas zu illusionären Vorstellungen der künftigen Arbeitswelt ab(5).

 

Das Leben in der modernen Industriegesellschaft

 

Die Frage, ob die Industrialisierung letztlich eher Fluch als Segen bedeutet, stellt sich schon lange nicht mehr. Die Industrialisierung ist unsere Lebensbasis ohne die wir selbst bei bescheideneren Ansprüchen nicht mehr existenzfähig wären. Die einzige Frage besteht darin, die Arbeitswelt menschlicher zu gestalten, wobei insbesondere auch die Gewerkschaften gefordert wären, ihre frühere Politik der Forderung ständiger Gehaltserhöhungen und sinkender Arbeitszeiten durch eine moderne, den Realitäten unserer Zeit angepassten Flexibilisierung der Arbeitszeiten zu ersetzen, eine Politik, welche die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrienationen bei gleichzeitig humaneren Arbeitsbedingungen möglich macht.

 

Dass die Industrie unser Leben in jeder Weise verändert hat, ist unbestreitbar. Wir leben schlechter und besser zugleich, unsere Gedankenwelten (einschließlich unserer Kreativität) sind eingeschränkter, familiäre Beziehungen schwieriger geworden, kulturelle Ansprüche insgesamt deutlich niedriger oder zunehmend elitären Schichten vorbehalten. Es ist kein Wunder, dass viele Jugendliche dieser Zukunftswelt entfliehen möchten, einige versuchen es, jedoch haben nur wenige damit Erfolg – für das bittere Ende ohne Kranken- bzw. Altersversorgung zu leben, fehlt vielen die Phantasie. Ein Aufwachen, wenn es bereits zu spät ist, wird neue Probleme bei den Sozialversicherungen und somit für die ganze Gesellschaft aufwerfen.

Die Flucht vor Realitäten hat sich nur äußerst selten gelohnt.

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(1) Die Aufhebung der Leibeigenschaft fußt zwar auf den Vorstellungen der Aufklärung, wurde jedoch erst im 18. Jahrhundert langsam abgeschafft (in Österreich unter der Kaiserin Maria Theresia – wobei es allerdings in Österreich bereits Regionen wie Tirol gab, in der die Leibeigenschaft schon zu Beginn der Neuzeit um ca. 1500 praktisch nicht mehr vorhanden war).

 

(2) Erste Dampfmaschinen wurden in Deutschland bereits in den Jahren 1690-1698 entwickelt, jedoch erst die 1769 patentierte Maschine des Engländers James Watt besaß einen so hohen Wirkungsgrad, dass diese Maschinen in Sägewerken, Webereien, Bergwerken oder anderen Betrieben eingesetzt werden konnten. James Watt wird zu Unrecht als „Erfinder der Dampfmaschine“ bezeichnet.

 

(3) Es darf davon ausgegangen werden, dass die Bevölkerungszunahme nur in den zivilisatorisch entwickelten Regionen der Erde stattfand, da es in anderen Regionen keine Veränderungen der Lebensbedingungen gab.

 

(4) Insbesondere deutsche Gewerkschaften setzten in Zeiten der aufstrebenden Nachkriegswirstschaft Tarifverträge durch, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts infolge von „Tarifautomatiken“ und Flächentarifverträgen nicht mehr realistisch waren.

 

(5) Da es in den Nachkriegsjahren sowohl in Deutschland, als auch Österreich Studiengebühren gab, war es für die meisten StudentInnen unerlässlich, während studienfreier Zeiten Geld zu verdienen, wobei Industriebetriebe wegen relativ hoher Vergütungen am beliebtesten waren. Ein/e ChemiestudentIn, der/die z.B. während der Semesterferien in der BASF oder einem anderen chemischen Großbetrieb arbeitete, wusste genau, was sie/ihn nach Studienabschluss erwartete. Illusionen über die Industrie machte sich trotz wesentlich besserer Bewerbungs- bzw. Einstellungschancen niemand.

 

(Die Erstfassung vom 19.08.2010 wurde am 16.11.2018 redigiert)

 

 

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