Für einen ganz kurzen Moment hielt ich mich für genial

 



Verdichtung mit Fehlstellen (c) Alfred Rhomberg

 

 

Andere wollen Chefarzt werden, ich hatte eigentlich vor, die Laufbahn eines Genies einzuschlagen. Da es hierfür jedoch weder Universitäten noch Abendkurse am zweiten Bildungsweg gibt, war ich auf mich selbst angewiesen. Zum Genie wird frau/man nicht geboren, also muss es möglich sein, aus eigener Kraft dazu zu werden. Mozart hatte es leicht, er wurde von seinem Vater dazu gezwungen, ein Genie zu werden – aber wenn er in unserer Zeit gelebt hätte, wäre es vielleicht nicht dazu gekommen. Vielleicht hätte er Computerspiele dem ständigen Klavier- und Geigeüben vorgezogen – welche Eltern können ihren Kindern heute schon verbieten, solche Spiele zu konsumieren, Eltern sind machtlos! Am eigenen hauseigenen PC sind Verbote möglich, nicht jedoch bei den Freunden der Kinder. Vielleicht wäre Mozart heute ein Computergenie geworden – obwohl ich nicht (oder noch nicht) weiß, wie ein Computergenie überhaupt aussieht.

 

Verlassen wir solche Mutmaßungen – schließlich geht es um mich und meine Absicht, Genie zu werden. Dem entgegen steht eigentlich nur, dass der Begriff „Genie“ so unterschiedlich definiert wird. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde von Psychiatern wie Lombroso darüber hinaus die Theorie vertreten, Genie mit „Irrsinn“ gleichzusetzen. Ich glaube nicht, dass Aristoteles, Leonardi da Vinci oder Mozart irrsinnig waren, aber das ausgehende 19. Jahrhundert war insbesondere in den Anfängen der Psychologie und Psychiatrie noch etwas renovierungsbedürftig, was Karl Kraus in einem Aphorismus so formulierte:

 

“Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält” (1).

 

Um ein Genie zu werden ist auch die Vermutung erschwerend, dass Genialität in einer falschen Umgebung nichts nützt, bzw. nicht erkannt wird. Vielleicht bin ich ja bereits ein Genie und lebe nur in der falschen Umwelt und meine Umwelt ist eben nicht geschaffen, Genies zu erkennen. Da wäre jedes Bemühen, ein Genie zu werden umsonst, denn was frau/man schon ist, soll frau/man nicht ein zweites Mal anstreben, zumindest wäre dies wegen des Aufwandes unsinnig.

 

Wer ist heute schon ein Genie? Ich weiß es nicht – unter PolitikerInnen habe ich bisher keines entdeckt und Albert Einstein könnte jederzeit vom Sockel seiner Genialität hinunter gestoßen werden, wenn es irgend eine Theorie (oder ein Experiment) gäbe, das seine Allgemeine Relativitätstheorie widerlegt. Alle physikalischen Theorien wurden bisher immer widerlegt und durch neue ersetzt! Ein Plasma-(Teilchen)Physiker sagte mir unlängst, wir lebten in einer spannenden Zeit, die Versuche am LHC (CERN)  wären überaus spannend. Auf meine Frage „und was ist, wenn das Higgs-Boson nicht gefunden wird?“, antwortete er: „dann leben wir erst recht in einer spannenden Zeit“. Wie auch immer, die Verdienste von Aristoteles, Leonardi da Vinci oder Mozart lassen sich jedenfalls nicht so einfach rückgängig machen wie geniale Entdeckungen der Physik.

 

Während ich so hin und her sinnierte, welche Art von Genie ich werden wollte, kam mir plötzlich die meiner Meinung nach geniale Idee, doch lieber Chefarzt als ein Genie mit irgendwelchen Makeln zu werden – für einen ganz kurzen Moment hielt ich mich wegen dieses Einfalls für genial. Und wieder wurde ich zum verhinderten Genie.

 

(20.4.2013)



(1) Karl Kraus, Nachts (Zeit); in: G. Fieguth: Deutsche Aphorismen, Reclam Verlag, Stuttgart 1978, S. 227

 



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