Der Tod der Apokalypse
Am 14. September verspürte Josef zum ersten Mal, dass die bereits im Gilgamesch-Epos vor ca. 4000 Jahren und 1500 Jahre später von Hesekiel neuerlich erwähnte und seither offenbar langsam fortschreitende Apokalypse ihren Höhepunkt erreicht oder bereits überschritten haben musste. Alles wurde plötzlich so einfach. Schon vor Tagen hatte Josef bei einer Bergwanderung bemerkt, wie ein Adler ein Murmeltier liebevoll umfing und eine von ihm selbst ausgelöste Schnee-Lawine ihre verhängnisvolle Talfahrt zunächst stoppte, um sich dann langsam an ihren Ursprungsort zurückzuziehen. Auch die Kriegsmaschinerie der Welt hatte sich gewandelt, die Generäle mussten ihre Truppen abziehen, weil die Waffenproduzenten ihr Geschäftsmodell geändert hatten und als Nachschub Marzipankugeln und türkisches Konfekt an die Kriegsfronten versendeten. Das hatte niemand erwartet, deshalb traten vielerorts Ängste auf, die denjenigen einer apokalyptischen Vorstellung zunächst ziemlich ähnlich waren. Die PsychotherapeutInnen waren fachlich überfordert, weil die Behandlung postapokalyptischer Traumata weder Thema ihrer Ausbildung noch der einschlägigen Fachliteratur war. Josef war ein besonnener Mensch und ließ sich nicht verängstigen, er genoss das Abklingen der Apokalypse – er selbst würde die absolute Leere nach deren definitivem Tod nicht mehr erleben. Vermutlich würde es - vielleicht wieder in etwa 2800 Jahren - neue Propheten geben, die ohne Apokalypse keinen geistigen Fortbestand der Menschheit mehr sahen und daher deren Wiedergeburt proklamierten. Es ist nicht gesichert, ob es ihnen gelingen würde, die Menschen aufs Neue durch ihre Prophezeiungen zu verängstigen. Apokalyptische Vorstellungen wurden bisher stets durch besondere Ereignisse initiiert, zu denen es jedoch nach dem Tod der Apokalypse vielleicht gar nicht mehr kommen würde.
Deswegen schlief Josef in der Nacht zum 15. September und in den Folgenächten beruhigt ein und träumte von weißen dahingleitenden Pferden und etwas Pflaumenmus.
(Version 11.9.2014)