Mein unbekannter Lebensraum
Ich lebe in einem mir nicht bekannten Raum im ersten Stock eines Hauses, dessen Hausnummer ich kenne, in einer Straße und einem Land – irgendwo, ich könnte das Land Phantaaasien nennen – ein Land, dessen Distrikte ich bereits mehrfach gewechselt und dort in anderen Straßen, in anderen Häusern mit anderen Hausnummern gewohnt hatte und nie wusste, wo ich mich befand. Langsam fühlte ich mich wie ein Bakterium, das sich zufällig auf der Oberfläche eines Bildes von Monet befand und das infolge der Evolution zufällig zum Bacterium “sapiens” wurde. Als solches begriff ich plötzlich, was ich zum Leben brauchte und wann (bzw. warum) ich mich zu teilen hatte und nach und nach kam jenes Wissen hinzu, welches mir erlaubte, den Untergrund auf dem ich mich befand, chemisch zu analysieren. Ich fand eigenartige Strukturen, Harze, Pigmente und Farbstoffe, deren chemische Strukturen mir immer geläufiger wurden – ich wusste möglicherweise mehr als meine Vorgänger vielleicht wussten und bildete mir ein, meinen Lebensraum zunehmend besser erkannt zu haben – täglich etwas mehr – und dann geschah das Entsetzliche: die Erkenntnis, nicht erkennen zu können, dass der Untergrund auf dem ich mich befand ein Monet war und was das Bild von Monet aussagen wollte – ich war an das Ende meiner Erkenntnis und meines Seins gelangt – denn wo kein Sein ist, ist auch kein Lebensraum.
Gut, dass ich kein Bacterium “sapiens” bin – ich bin „ich“ und kenne meinen Lebensraum. Ich weiß, dass ich im ersten Stock eines Hauses mit mir bekannter Hausnummer in einem Land lebe – ich könnte es Phantaaasien nennen – schaue gelegentlich durch ein Hochleistungsteleskop, berechne komplizierte mathematische Formeln, schreibe alles auf was ich sehe und berechne, erhalte Auszeichnungen von wissenschaftlichen Akademien und in einer ehrlichen Stunde denke ich an das Bacterium “sapiens”, das nicht einmal die Aussage eines ganz normalen Bildes von Monet, geschweige denn die Bedeutung von Picassos Guernica erkennt.
Und als ich mir bewusst wurde, dass ich nur Hausnummern und Straßennamen kenne, schrieb ich die nachstehenden Zeilen (nur um mich zu beruhigen und zu betrügen):
Der Ausgangspunkt ist der Anfang vom Ende.
Und was ist dazwischen?
Ach nichts – nur Näherungen an das Ende.
Und was kommt dann?
Ein neuer Ausgangspunkt.
Wer sagt das? Genau genommen niemand – aber es könnte ja sein!
Diese Aussagen ließen sich formal umkehren:
Was war vor dem Ende?
Irgend etwas nach einem Ausgangspunkt.
Und was war vor dem Ausgangspunkt?
Nichts!
Wer sagt das? Genau genommen niemand – aber es könnte ja sein!
Für einen “Lebensraum” ist in beiden Formulierungen zu wenig Platz.
(25.04.2012)