Der „Krimi“ als Zeitgeist-Detektor

 
"Tod" - © Alfred Rhomberg, völlig veränderte Basisgrafik des urheberfreien "Gift"-Pictogramms

Kriminalromane gelten heute landläufig als Trivialliteratur, obwohl es auch in der Vergangenheit durchaus anspruchsvolle Beispiele für diese Literaturgattung gab (u.a. Dostojewski: "Schuld und Sühne" oder Schillers „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“). Der herausragende US-Amerikaner Edgar Alan Poe (1809-1849) prägte sowohl die nachfolgenden Gattungen der Kriminalromane, als auch die Science Fiction- und Horrorliteratur. Im 19. und 20. Jahrhundert folgten dann die berühmten Detektivgeschichten mit ihren Kunstfiguren von Agatha Christie (1890-1976, Hercule Poirot und Miss Marple), Arthur Conan Doyle (Sherlock Holmes), Edgar Wallace (1875-1932) mit thematisch ganz unterschiedlichen Romanen, wobei ein Roman „Der Hexer“ als Theaterstück Wallace zum Durchbruch u.a. durch seine deutsche Uraufführung am Deutschen Theater unter der Regie von Max Reinhardt verhalf. Offenbar brauchte das aufkommende Bürgertum diese Literaturgattung ebenso wie das moderne „Kleinbürgertum“ unserer Zeit seine TV-Tatortsendungen braucht – doch dazu später.

 

Der nachfolgende Versuch, typische „Krimigattungen“ einem bestimmten Zeitgeist zuzuordnen, muss auf wenige Beispiele beschränkt bleiben, von denen nicht die gedruckten Romane, sondern nur deren Verfilmungen sowie spätere TV-Filme bzw. TV-Krimiserien für eine Zeitgeistanalyse herangezogen werden. Dabei lassen sich durchaus Parallelitäten solcher Filme zum gerade herrschenden Zeitgeist ableiten.

 

Frühe Kriminalfilme

 

Der erste „große“ Kriminalfilm „M“ (oder: M – Eine Stadt sucht einen Mörder) von Fritz Lang war nicht nur im Zusammenhang für eine neue Kunstgattung des Films, sondern auch für die aufkommende Hysterie der Jahre der Weltwirtschaftskrise zeittypisch. Zwar standen für den Film berühmte Serienmörder wie  Carl Großman oder Karl Denke als Vorbilder Pate - solche Serienmörder gab es jedoch immer - Fritz Lang entwickelte (nach ersten unbedeutenden Filmen) um 1920 eine ganz neue Filmästhetik, die nach seiner erfolgreichen Verfilmung von „Doktor Mabuse, der Spieler“ (nach einem Roman von Norbert Jaques, 1880–1954) in seinem Stummfilm „Metropolis“, einem futuristischen Science Fiction Film (1925/1926) einen ersten Höhepunkt fand, aber als Film durchfiel. Im Tonfilm „M“ (1931) erreichte Lang einen filmischen Höhepunkt, der zwar auch durch Schauspieler wie Peter Lorre oder Gustav Gründgens begründet war, mehr jedoch durch die geniale Art Langs mit dem neuen Medium „Tonfilm“ umzugehen. Während in anderen Filmen die Möglichkeiten des Tons anfangs gnadenlos eingesetzt wurden, ging Fritz Lang mit dem „Ton“ spärlich um. So wurde eine Polizeiverfolgungsjagd zunächst ohne jeden Ton gezeigt und die Filmbesucher durch einen plötzlichen schrillen Pfiff gefesselt. Der Film ist ohne Zweifel „zeittypisch“, weil er spätere Gerichtsverhandlungen, bei denen das Urteil bereits von vornherein feststand, vorwegnahm. Trotzdem passierte der Film die Filmzensurstelle, wobei sich Goebbels nach einem Filmbesuch sogar sehr positiv in einem Tagebuch über den Film äußerte.

 

Im Deutschland der Nazizeit spielten Kriminalfilme später nur eine untergeordnete Rolle, aus heutiger Sicht waren meist unbedeutende Unterhaltungsfilme gefragt – offenbar war der „Krimibedarf“ der Bevölkerung durch die Kriegsszenen der Wochenschauen gedeckt.

 

Der Krimi im Nachkriegsdeutschland

 

Im Nachkriegsdeutschland lebte der Kriminalfilm wieder auf, allerdings gab es zunächst meist nur unbedeutende Neuverfilmungen von Edgar-Wallace-Romanen oder Mabuse-Filme mit Hauptdarstellern wie Paul Dahlke, Peter van Eyck etc. Wesentlich spannender war für die damalige Zeit die vierteilige „Durbridge-Serie“ Anfang der 60-iger Jahre. Die Bevölkerung (oft noch ohne Fernsehen) zog Heimatfilme oder unterhaltende Wiederaufbaufilme und Erfolgsfilme unter der Regie von Kurt Hoffmann(1) oder den sozialkritisch-zeittypischen Film „Das Mädchen Rosemarie“ vor, bis dann ausländische Filme aus den USA oder England eine neue Gattung des Kriminalfilms die Kinoleinwände eroberten. Filme wie „Charade“ (Audrey Hepurn, Cary Grant und Walter Matthau unter der Regie von Stanley Donen), „Das Fenster zum Hof“ (Grace Kelly und James Stewart, Regie: Alfred Hitchcock) sind Beispiele für eine neue Gattung von Kriminalfilmen, die durch erstklassige Schauspieler, witzige bis beklemmende Dialoge, gute Drehbücher und hervorragende Kameraführung gekennzeichnet waren. Diese Filme waren weniger zeittypisch im Konnex zur herrschenden „Zeit“, als für anspruchsvolle Unterhaltung, welche zu dieser Zeit im deutschen Film kaum geboten wurde. Viele spätere Filme Hitchcocks waren gleich meisterhaft, aber „zeittypisch“ für das sich verhärtende politische Klima zwischen dem Westen und der UDSSR. Ähnliches lässt sich von den englischen James Bond-Filmen nach Romanen von Ian Fleming mit der Kunstfigur des Geheimagenten 007 sagen, bei denen technische Spielereien gegenüber geschliffenen Dialogen überwogen und deren Niveau deutlich gegenüber Hitchcock-Klassikern abfielen, wobei das Niveau der "neuen" James Bondfilme diese Entwicklung fortsetzt und das Marketingspektakel bereits im Vorfeld für "Kassenerfolge" sorgen muss. 

 

Parallel dazu gäbe es viele erwähnenswerte ausländische Kriminalfilme, die jedoch kaum zeittypisch sind, u.a. „Ladykillers“ (Agatha Christie, mit Alec Guinness) oder der brilliante französisch-italienische Film „Lohn der Angst“ (Regie: Henri-Georges Clouzot mit Ives Montand, Charles Vanel und Peter van Eyck), ein Film der in Kritiken als brilliant, anspruchsvoll und zugleich inhuman bezeichnet wurde.

 

Fernseh-Krimiserien ab 1970

 

Ab etwa 1970 brachen die Fernsehkrimiserien über uns herein, zu denen in diesem Beitrag zwei zentrale Fragen im Vordergrund stehen:

 

1). Warum sind diese Serien so beliebt?

 

2). Warum häufen sich neue Serien oder Konzepte dieser Gattung in unserer Zeit in einer Weise, dass es inzwischen schwer fällt zur Hauptsendezeit nicht in einen „Krimi“ zu geraten.

 

Die erste Frage kann nicht anders als mit der wachsenden Anspruchslosigkeit fast aller Gesellschaftsschichten beantwortet werden. Die Arbeit oder „der Job“ werden zunehmend anstrengender, die kontemplative Leselust nimmt ab, das Abendessen wird oft gleichzeitig mit einer Fernsehschnulze, einem Serienkrimi oder einem Sport-Event konsumiert. Das Traumschiff, die Schwarzwaldklinik, Rosamund Pilcher oder der Bergdoktor tun nicht weh -  und Krimiserien meist auch nicht. Relativ spät werden gelegentlich wieder durchaus sehenswerte Unterhaltungsfilme produziert (insbesondere von der Degeto Film-Gesellschaft, die an sich seit 1928 besteht). Nach den eher klischeehaften, aber beliebten Serien wie „Ein Fall für zwei (mit seit 1981 300 Serien), Derrick (1974-1998) oder „Der Alte“ (seit 1977), versuchen die Tatort-Serien (ab 1970) im Laufe der Jahre zeitgeisttypische Verränderungen in ihr Konzept einzubeziehen. Die Serien folgen einem bis heute weitgehend durchgehaltenen Konzept: sie sollen realitätsnah mit vorstellbarem Lokalkolorit sein und gesellschaftspolitische Bedeutung haben, z.B. Konflikte zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten darstellen, wobei die gesellschaftspolitischen Veränderungen auch in der Auswahl der Zentralfiguren der Kommissare und später Kommissarinnen stets ein Spiegelbild der Zeit sind. Es begann mit Kommissar Schimanski, der so angelegt war, dass er erstmalig offenkundig der Arbeiterklasse entstammte. Der nächste Schritt waren zwei (fast gleichrangige) Kommissare, die als „Typ“ angelegt waren, den Unterhaltungswert zu steigern (z.B. mit Manfred Krug). Dann folgten in der zunehmend gender-bewussten Zeit die Kommissarinnen oder weibliche hochrangige Mitarbeiterinnen von Kommissaren. Als nächstes musste offenbar der Spagat gelingen, die immer tristeren Schichten des „Verbrechermilieus“ (verkorkste Jugendliche mit verkorksten Eltern aus angesehenem Milieu oder Zuhälter, Prostituierte etc.) durch Herausarbeitung der Charaktere der Kommissare und Kommissarinnen als Menschen mit persönlichen Schwächen so auszugleichen, dass „Tatort“ Serien zunehmend Spielfilmcharakter erhielten, was gute Drehbücher voraussetzt und nur selten gelingt. Besser sind (bzw. waren) da die Serien von „Fall zu Fall“ mit Kommissar Stubbe (Wolfgang Stumpf), der seine Serien selbst managte und nur seine eigenen Ideen verwirklichte. Stumpf hat trotz hoher Zuseherzahl und großer Beliebtheit beschlossen, diese Reihe zu beenden(2). Die Beliebtheit der Serie bestand darin, dass sie eben „anders“ als die immer zahlreicheren „Tatorte“ waren.

 

Eine recht gute Kiminalserie „Unter Verdacht“, die seit 2002 im ZDF und in arte ausgestrahlt wird, besticht durch meist gute Drehbücher und die schauspielerische Leistung von Senta Berger, die sich als Kriminalrätin Dr. Eva-Maria Pohacek in der „Abteilung 411“ ausschließlich mit „Amtsdelikten“ befasst – eine sicherlich zeitgeistig diktierte Idee!

 

Skandinavische und britische Serien mit oft hohem Niveau

 

Bei skandinavischen Krimi-Autoren finden wir oft ein erfreulich hohes literarisches Niveau, so schrieben z.B. das schwedische Autorenpaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö skandinavische, sozialkritische Kriminalromane bzw. spannende Geschichten mit Nervenkitzel und interessanten Charakterstudien. Nicht zuletzt haben es diese Filme dank der menschlichen Schwächen der Protagonisten wie z.B. des Kommissars Wallander (eine Kunstfigur des am 5.10.2015 verstorbenen Henning Mankell) zu einem beachtlichen Kultstatus gebracht.

 

Beliebt sind auch britische Krimiserien (z.B. Inspector Barnaby), die im deutschen Fernsehen nur im ZDF (und nicht alle Serien) ausgestrahlt werden. Der Charme dieser Serien (ohne Zeitgeistbezug) liegt allerdings eher am „Britischen Flair“ der englischen Drehorte und an den liebenswürdigen Hauptdarstellern und Darstellerinnen.

 

Bleibt abschließend noch die zweite oben gestellte Frage zu beantworten:

 

Warum häufen sich neue Serien oder Konzepte dieser Gattung in unserer Zeit so, dass es inzwischen schwer fällt, zur Hauptsendezeit nicht in einen „Krimi“ zu geraten?

 

Dafür gibt es mehrere Ursachen:

 

1). In den USA oder England werden kaum niveauvolle Filme wie zur Zeit Hitchcocks oder anderer berühmter Regisseure gedreht - und wenn, dann über andere Themen, von denen die meisten Filme nur im Kino gezeigt werden.

 

2). Die Anspruchslosigkeit der meisten FernsehzuschauerInnen(3) nimmt erschreckend zu. Der Mord beim Abendessen ist einfacher konsumierbar als einer der gelegentlich hervorragenden Filme auf arte, ORF III oder 3-sat. Die Ursache muss aber wohl tiefer liegen, dass fast wöchentlich neue Serien mit neuen KommissarInnen-Duos „aus dem Boden gestampft“ werden. Bei der großen Zahl der Serien, die mit einigen Ausnahmen immer anspruchsloser werden, bleibt es nicht aus, dass die agierenden KommissarInnen geradezu verschlissen werden – hinsichtlich der kriminellen Delikte hat man sowieso fast die ganze Palette möglicher Verbrechen abgehakt – man kann sie nur noch weiter „brutalisieren“ (oder es müsste den Krimiautoren und Regisseuren etwas wirklich Neues einfallen). Ein weiterer Grund für die Beliebtheit von Fernseh-Krimis könnte darin bestehen, dass wir durch die Nachrichtensendungen so massiv mit der Wirklichkeit brutaler Ereignisse aus allen Teilen der Welt übersättigt werden, dass ein anschließender Krimi geradezu als Erholung dient, weil hier die „Bösen“ fast immer unterliegen und man beruhigt zum nächsten Krimi wechseln kann. 

 

(25.10.2015 überarbeitete Fassung)

 

 

(1) Kurt Hoffmann, typische Unterhaltungsfilme: Das fliegende Klassenzimmer, Ich denke oft an Piroschka, Das Wirtshaus im Spessart, Wir Wunderkinder, Schloss Gripsholm, Rheinsberg und viele andere.

 

(2) Interview in „Die Welt“ mit Wolfgang Stumpf http://www.welt.de/fernsehen/article13799789/Ohne-Weiber-geht-die-Chose-nicht.html

 

(3) Die wachsende Anspruchslosigkeit macht sich auch in den zunehmend niveauloseren Unterhaltungssendungen mit unechter „volkstümlicher“ Musik, Reality-Sendungen (Dschungelcamp) und Comedy-Darbietungen (statt gutem Kabarett) bemerkbar.

       

 

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