Apropos Fortschritt – Die Flucht
Gerade wollte Josef dem Kutscher befehlen, die Pferde einspannen zu lassen, als ihm noch rechtzeitig einfiel, dass er sich gedanklich bereits so weit aus einer Welt verabschiedet hatte, der er eigentlich entfliehen wollte. Zudem fiel ihm ein, dass er weder Kutscher noch Pferde besaß. Aber auch mit dem Flugzeug, Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln den Banalitäten seiner Zeit entfliehen zu wollen ist aussichtslos – und wo wollte er eigentlich hin? Nach Utopia? Dann jedoch nicht in jenes Utopia von Thomas Morus, das dieser in lateinischer Sprache 1516 (1) mit vielen Wunschvorstellungen niederschrieb, die gar nicht so weit von unseren modernen Utopien entfernt sind, aber inzwischen fast alle schon einmal durchexerziert wurden und sich nicht bewährt haben, darunter demokratische Republiken auch auf praktisch kommunistischer Basis. Nein – das wollte Josef nicht!
Zunächst wünschte sich Josef in frühere Jahrhunderte zurückzukehren, bis er gedanklich feststellte, dass es in jedem Jahrhundert gute und schlechte Dinge gab – vor allem wollte er nicht wegen einer harmlosen kleinen Operation ohne Betäubungsmittel zuerst gequält werden, um dann doch an deren Folgen zu sterben. Zukünftige Jahrhunderte wagte er sich gar nicht auszudenken – sie würden eine Potenzierung dessen bedeuten, dem er entfliehen wollte.
Wenn Josef schon selbst nicht wusste, was er eigentlich wollte, wie sollten es dann die anderen wissen? So ging er in sich, um keine überhasteten Beschlüsse zu fassen - dabei fiel ihm sofort der erste Punkt ein:
Josef wollte nicht alle zwei Jahre die Gebrauchsanweisungen für ein neues Handy und neue Betriebssysteme für seinen Computer studieren oder die Manuals für den Ersatz aller notwendigen Surroundings lesen. Er wollte auch keine ständig neuen Datenträger, die seine sorgfältig aufgebaute Musiksammlung in Frage stellten und auch nicht ständig neues Fachchinesisch bei der Verrichtung seiner normalen Tagesarbeiten lernen, was sich ganz eindeutig auf die Zeit auswirkte, um Kreativeres zu schaffen!
Je mehr er über seine Flucht aus den Banalitäten des Lebens nachdachte, desto mehr Gründe fielen ihm ein, nach weiteren Gründen für diese Flucht zu suchen. Und plötzlich überkam ihm der blitzartige Gedanke, dass er sich bereits fast wie die Entwickler dieser ganzen technischen Unnotwendigkeiten verhielt, nämlich nicht mehr über wirklich Neues, Kreatives nachzudenken, sondern nur darüber, bereits Vorhandenes schneller und leider noch unverständlicher zu gestalten, mit anderen Worten: neue technokratische, ideologische Mittel zuerst zu produzieren und dann die Gegenmittel, um die angerichteten Schäden wieder zu reparieren. Ganz stimmte der Vergleich natürlich nicht – aber:
Fluchtpläne auszuarbeiten ist einfacher als das zu verändern, vor dem man fliehen will.
Mit dieser tristen Erkenntnis stellte er den Versuch zum Entfliehen ein und dachte an einen berühmten Satz des Philosophen Hegel:
„Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit — ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.“
Er dachte nur kurz, dass Hegel diesen Satz wohl nie gesagt haben würde, wenn er ein neues Aufnahmegerät zur Aufnahme von Fernsehsendungen programmieren, oder seine Vorlesungen und Bücher am Computer hätte konzipieren müssen. Er hätte mit Sicherheit sehr viel weniger geschrieben. Das versöhnte Josef mit den technischen Tücken unserer Zeit und so wandte er sich wieder seiner heutigen Tagesarbeit zu: endlich das Manual für den Gebrauch seines neuen Rasierapparates zu lesen (und zu verstehen!).
(22.7.2013)