Der zweithöchste Berg

 

Berge

 

 

 

Ich möchte den höchsten Berg besteigen – ohne Sauerstoff und ohne sinnvolle Begründung, unter den schwierigst ausdenkbaren Bedingungen. Meinen Verstand parke ich währenddessen in einer Kaufhaustiefgarage von Kathmandu und wenn ich dann am Gipfel bin, ist es das schönste Gefühl der Welt – ein Gefühl, das sofort in tiefste Verzweiflung umschlägt, weil es jetzt nichts mehr gibt, das höher ist als der höchste Berg – ich hätte mir den zweithöchsten Berg aussuchen sollen, dann hätte es noch eine Steigerung gegeben – aber so?

 

Nachdem dies ein rein gedankliches Spiel war, darf ich ohne Bedenken noch einmal neu beginnen:

Ich möchte den zweithöchsten Berg besteigen ohne Sauerstoff – zweithöchste Berge besteigt man nicht mit Sauerstoff, man atmet das, was man vorfindet. Wenn ich den Gipfel erreicht hätte, wäre das Gipfelerlebnis gleich erhebend und unbeschreiblich gewesen, wie wenn ich den höchsten Berg erklommen hätte. Vermutlich wäre jedoch auch in diesem Falle die Begeisterung rasch in eine fast unvermeidliche Ernüchterung umgeschlagen – ich wäre nicht mit mir zufrieden gewesen, weil ich mich eben nur mit dem zweithöchsten Berg begnügt hätte – so etwas begleitet einen das ganze Leben. Also auch nicht gut!

 

Nachdem dies ein rein gedankliches Spiel war, darf ich ohne Bedenken noch einmal neu beginnen:

Ich möchte überhaupt keine Berge besteigen, zumindest nicht solche, die von Fachleuten als solche anerkannt werden. Ich definiere meine Berge selbst und passe sie meinem jeweiligen Stimmungsbarometer an, wobei es eine einzige Herausforderung dabei gibt, nämlich, flexibel zu sein – flexibler jedenfalls, als jemand der den höchsten oder zweithöchsten Berg besteigen will. Oder deutet die Absicht, den höchsten oder zweithöchsten Berg zu besteigen auf besondere Flexibilität hin, wenn man bereits nach den ersten Schritten praktisch gezwungen ist, auch weitere Schritte tun zu müssen? Man erklimmt keine Gipfel, wenn man nach den ersten Schritten keine weiteren folgen lässt. Ich dagegen habe zum Beispiel die Freiheit, diesen Text an dieser Stelle zu schließen.

 

(2011)

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