Petite fleur – Musikrezeption der Jugend nach 1945
In diesem Beitrag geht es um Musik, die junge Leute nach 1945 in Europa bewegte und die technischen Möglichkeiten, diese Musik zu erleben.
Klassische Musik und die Schlager der Nazi-Zeit interessierten die Jugend nach 1945 nicht, wohl aber amerikanischer Jazz und Schlager-Evergreens. Es würde zu weit führen, hier über die „Großen“ des Jazz wie Lionel Hampton, Benny Goodman oder die vielen InterpretInnen wie z.B. Ella Fitzgerald zu berichten, deren Musik von der (meist studentischen) Jugend aufgesogen wurde – stellvertretend soll auf Aufnahmen eines Evergreens von Sydney Bechet am Schluss des Beitrags hingewiesen werden: „Petite fleur“. Diese Aufnahme wurde nicht ausgewählt, weil sie als Komposition ganz besonders herausragt aus dem, was sich in dieser Zeit anbot, sondern weil sie typisch für die Nachkriegsjahre und gleichzeitig eine Art Schnittstelle zwischen Jazz und Schlager war, wobei die meisten zu dieser Zeit gar nicht in der Lage waren, diesen Unterschied bei amerikanischer Musik zu kennen. Stellen wir jedoch zuerst die Frage:
Wie hörte frau/man diese Musik?
Die ersten Volksempfänger wurden 1930 gebaut bei denen in der Nazizeit der Empfang von Fremdsendern gesperrt war. 1945 war der Bau von Radios noch streng bewilligungspflichtig und Radios konnten von der Bevölkerung nur auf Bezugsschein gekauft werden, bis der Radiohändler Max Grundig, der sich in der Zwischenzeit nur mit Radioreparaturarbeiten über Wasser gehalten hatte, eine bahnbrechende Idee hatte. Er entwickelte einen einfachen Bausatz namens „Heinzelmann“ zu Herstellung von Radios, denn der Selbstbau war erlaubt. Bald wurden dann auch die ersten fertigmontierten Radiogeräte verkauft (in Deutschland u.a. von Grundig oder Blaupunkt, in Österreich von Kapsch und Eumig). Diese Radios waren AM-Emfänger(1) für Lang- Mittel und Kurzwelle, wobei damals nur der Mittelwellenempfang eine Rolle spielte. Damit konnten viele, auch weiter entfernte Sender empfangen werden, wobei der AM-Wellenempfang zwei Nachteile hatte: a) der Frequenzumfang war relativ klein, b) ein Rauschen ließ sich selbst durch entsprechende Filter nicht völlig unterdrücken. Erst 1949 wurden in den USA die ersten FM-Radios(2) gebaut, die in Europa zunächst nur langsam Einzug hielten, weil sie relativ teuer waren und entsprechende FM-Sender dadurch verzögert eingerichtet wurden. Die ersten Transistorradios wurden 1953 entwickelt, bis weit in die 60-iger Jahre waren Radios jedoch meist noch Röhrengeräte.
Der erste Zugang zu Jazz- oder guter Schlagermusik war im Rundfunk erst ab etwa 1950 möglich. Einen weiteren Zugang zu dieser Musik gab es in Tanzcafés oder Bars, wobei diese Bars nicht den anrüchigen Vorkriegscharakter hatten und auch nicht mit heutigen „Bars“ verglichen werden dürfen. Tanzcafés und Bars waren meist elegante Etablissements mit Live-Musik, außerdem gab es in Universitätsstädten Studenten-Jazzkeller mit sehr anspruchvollen Tanz- und Jazzmusikbands. In München waren die Schwabinger Kellerlokale besonders bekannt.
Schallplatten waren in Europa sehr teuer – dieses erste Tonträgermedium musste – ähnlich wie unsere modernen Tonträgerformate, zunächst unzählige Formate über sich ergehen lassen, bis sich in Europa (um 1960) Plattenspieler mit 3 Geschwindigkeiten (33, 45 und 78 Umdrehungen pro Minute) etabliert hatten. Guter Jazz war schwer und zunächst nur auf kleinen Singles mit 45 Umdr./min erhältlich. Gute Jazzlabels (etwa von „Blue Note“) waren in Europa praktisch gar nicht erhältlich oder sehr teuer. Tonrecorder (Magnetophone) gab es zwar bereits seit 1935 (AEG/BASF), sie waren jedoch bis weit in die 60-iger Jahre für Jugendliche in Europa unerschwinglich.
Darüber hinaus hörte frau/man Jazz, Evergreens und Musicalmusik im Kino in Filmen wie „Der Amerikaner in Paris“ oder im unvergleichlichen und schönsten Jazz-Dokumentarfilm über das Newport Jazz Festival 1958 „Jazz an einem Sommerabend“ (1960, Regisseur und Kameramann Bert Stern). Es ist für den Autor unverständlich, dass dieser Film – übrigens der einzige des berühmten Pressefotographen, heute kaum mehr bekannt ist.
Doch zurück zu Petite fleur:
Der amerikanische vibratoreiche Saxophonist und Klarinettist Sidney Bechet (1897-1959) wurde in Europa 1949 am Festival International de Jazz in Paris bekannt als er seine Komposition Petite fleur und auch zum ersten Mal „Summertime“ von George Gershwin präsentierte.
Petite fleur ist Jazz und Schlager zugleich, darauf beruhte vermutlich der spätere Bekanntheitsgrad, denn reiner Jazz war damals genauso „elitär“, wie er es eigentlich heute immer noch ist.
Zum Schluss Hinweise auf zwe interessante Versionen von Petite Fleur:
New Orleans Saints (New Orleans Saints)
Sidney Bechet (Sidney Bechet mit seinem unnachahmlichen Vibrato)
In der modernen Version der „New Orleans Saints“ ist die Interpretation Jazz-nah aber auch etwas langweilig.
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(1) AM-Radioempfang beruhte auf der physikalischen Modulation (Überlagerung) einer bestimmten Frequenz mit niederfrequenten Tonsignalen, wobei sich die Amplitude der Wellen laufend änderte. Die gesendeten Wellen wurde im Empfangsgerät „demoduliert“, d.h. die an sich hochfrequente Trägerwelle wurde durch einen Gleichrichter „zerstört“, sodass nur noch das niederfrequente Tonspektrum übrig blieb und verstärkt wurde.
(2) Bei der Frequenzmodulation bleibt die Amplitude des Frequenzbandes erhalten, die Modulation veränderte in kleinem Ausmaß die eigentliche Trägerfrequenz. Die FM-Modulation hat Vor- und Nachteile. Vorteile: die Verarbeitung des Signals im Empfänger führt zu praktisch rauschfreiem Empfang, das niederfrequente Tonsignal lässt nach der Demodulation wesentlich höhere (und tiefere) Frequenzen zu (HiFi). Nachteil: die hochfrequente Trägerwelle erlaubt nur kurze Reichweiten der Sender, weshalb die späteren UKW-Sender (Ultrakurzwelle) nur geringe Reichweiten von wenigen 100 Kilometern hatten. Dieses Problem ist heute durch Kabel- bzw. Satellitenempfang oder Internetradio gelöst.
Anm.: Die ersten Radios nach Kriegsende waren, ebenso wie der Volksempfänger, „Rückkopplungsempfänger“, die später verboten wurden, weil sie leicht zum Sender werden und die Umgebung dadurch stören. Bei diesen Radios wird ein Teil des aus dem Schwingkreis in der ersten Verstärkerstufe verstärkten Signals auf den Schwingkreis zurückgeführt („rückgekoppelt“), was die Empfindlichkeit für eine bestimmte Frequenz stark erhöht. Wird zu viel Energie zurückgekoppelt, kommt es zu dem berühmten „Pfeifen“ – und die Empfangsantenne wird zur Sendeantenne. Die späteren FM-Radios waren grundsätzlich Superhet Empfänger, bei denen dies nicht mehr möglich war.
(Version 17.9.2012)