Mein „ich“ wird in den letzten Jahren zunehmend mit „hallo“ angesprochen und so werde ich dadurch in die breite Allgemeinheit aller derer eingereiht, die gleichfalls mit „hallo“ angesprochen werden. Ich mache mir Sorgen um mein „ich“ - besitze ich überhaupt ein „ich“, das mich von den vielen anderen „hallo-leute-ichs“ unterscheidet?
Die Zeiten, in welchen ich mich mit den Freud’schen Begriffen des Ichs und Über-Ichs beschäftigen musste schienen lange hinter mir zu liegen, auch das „cogito ergo sum“ (ich denke also bin ich – Descartes) macht mir heute kein Kopfzerbrechen mehr, eher interessiert mich, wann mein „ich“, sofern ich überhaupt eines besitze, angefangen hat zu existieren. Ich vermute, dass ich nur ein einziges Mal das besaß, was ich heute als „ich“ bezeichnen kann – nämlich als (ich) als kleines Kind, zum ersten Mal „ich will nicht“ zum Ausdruck gab - noch lange bevor es/ich diesen Satz aussprechen konnte. Dieses kleine „ich“ stimmt mit keinen der von Freud definierten ich’s (Es, Über-Ich, Ich bzw. Ego) überein. Das Es (oder Id), welches die Psyche und alle Triebe und Instinkte vegetativ steuert, haben bekanntlich auch viele Tiere. Das Über-Ich, von Freud als eine Art übergeordnetes Gewissen, ist für Freud ein Überbleibsel elterlicher Autorität – da fühle ich mich unschuldig. Unter dem Ego oder dem eigentlichen Ich, versteht Freud alle bewusst gemachten Erfahrungen. Hier kommen die ersten Zweifel, da diese Erfahrungen ja von außen kommen (nicht zuletzt durch die Schule und das gesamte Leben) d.h. dass die gleichen Erfahrungen theoretisch von vielen „ichs“ gemacht werden können und ich deshalb sofort wieder zu den vielen „hallos“ gehöre, die sich in Facebook mit „hallo leute…“ begrüßen. Was geschah mit meinem ersten kleinen „ich“ bzw. dem „ich will nicht“ im Laufe meines Lebens? Ich glaube, dass ich dieses „ich“ sehr schnell nach meiner ersten Unmutsbezeugung verloren habe. Daher begann ich frühzeitig, dieses „ich“ durch aus meiner jeweiligen Sicht originell erscheinende Gedanken, wissenschaftliche oder Kunstexperimente quasi in der Retorte neu zu züchten. Ich bezweifele, dass mir dies jemals gelungen ist und ob es überhaupt möglich ist, etwas der eigenen Individualität Entsprechendes zu schaffen. Allein der Begriff „Individualität“ (Ungeteilheit), welcher das Einzigartige schon seit der antiken Philosophie ins Zentrum stellt aber bis heute sehr unterschiedlich aufgefasst wird, ist für mich fragwürdig, umsomehr, als die heutigen Modeströmungen der „Selbstverwirklichung“ ja offenbar die verloren gegangene Individualität wieder herbeizaubern sollen. Wie kann man etwas wiederfinden, was es vielleicht gar nicht gibt? Auch die kirchliche Sicht der unsterblichen Seele, die den Menschen von allen anderen Wesen unterscheidet, ist hinterfragungswürdig – weniger die Unsterblichkeit der Seele (das ist Glaubenssache), als die Unterscheidung „von allen anderen Wesen“.
Es ist verrückt und viel schwieriger, als man glaubt – schon deswegen, weil dieses eben verwendete „man“ ja als „Indefinitivpronomen“ alle allgemeinen Personen im Singular und Plural, also schon wieder die Gesamtheit aller „ich’s“ bedeutet, die heute mit „hallo Leute“ angesprochen werden.
Mein Ich (sofern ich eines habe) muss das Problem daher ganz alleine ohne Hilfe anderer lösen, denn wenn ich es (das Problem) mit jemandem diskutiere, so mache ich dies mit einem „du“, welches sich selbst als „ich“ auffasst und das macht alles noch komplizierter.
Ich könnte Selbstgespräche führen oder e-mails an mich selbst versenden, das würde meinem „ich“ auch nicht helfen. Selbstgespräche führe ich in meinen Gedanken sowieso und e-mails an mich müsste ich dann wohl auch selbst beantworten (ohne hallo AR) - siehe auch das kleine Prosaexperiment „e-mail an mich“, in welchem das meiste gesagt ist, ohne zu einer Lösung (Ich-Findung) zu kommen, außer dass offenbar irgend ein phishing Dienst meine Adresse an einen Psychiater weitergeleitet hat.
Apropos Psychiater: einmal wollte ich das Problem tatsächlich mit einem Psychiater besprechen. Als er mich fragte seit wann ich diese Gedanken habe?“, antwortete ich unerwartet schnell: „das will ich Ihnen nicht sagen“ – und im selben Augenblick hatte ich zum ersten Mal wieder das Gefühl, dass diese an sich unfreundliche Antwort an mein erstes „i c h w i l l n i c h t“ anknüpfte. Glücklich verließ ich den verblüfften Psychiater.
Ich will – ich will nicht ! Das war die Lösung – doch schon nach wenigen Minuten dachte etwas in mir und korrigierte mich :
„e s“ w i l l n i c h t !
Jetzt muss ich mich auf die Suche nach diesem „es“ begeben, weil mein widerspenstiges „ich“ mich offenbar nicht selbst denken lässt.
(9.7.2014)