Heimat findet überall statt – am meisten in Tirol
Wer den deutschen Heimatfilm kennt, weiß, dass Heimat nur in der Schweiz, Österreich, Bayern und allenfalls in der Lüneburger Heide stattfindet. Daran kann auch die künstlerisch beachtenswerte Fernsehserie „Heimat“, die das Land um Taunus und Eifel beschreibt und der Film „ich denke oft an Piroska“, nichts ändern. Die meisten Menschen verbinden mit dem Begriff „Heimat“ eine Art heiler Welt und sind sich nicht bewusst, dass sie damit ihre eigene kleine Welt von den zahllosen „Unwelten“ (auch „Fremde“ genannt) ausgrenzen. Kennen andere Länder vergleichbare Begriffe? Und – warum fühlt sich jemand, der als Kind zunächst viele Jahre in Deutschland und später beruflich 30 Jahre in Mannem (= Mannheim) verbracht hatte von jeher als Tiroler – und ist deshalb nach Tirol zurückgekehrt? Für traditionsbewusste Menschen nicht ganz einfache Fragen, trotzdem versuche ich, mich dem Thema wenigstens ein bisschen zu nähern – mehr als „nähern“ ist bei einem so emotionsbeladenen Begriff wie „Heimat“ ohnehin nicht möglich.
Zuerst eine kurze Story: 14 Tage nachdem ich von Innsbruck nach Mannheim übersiedelte, wollte ich Polenta kaufen, ein in Deutschland noch vor 30 Jahren kaum lösbares Problem. Edel-Reformhaus oder gar Drogerie/Apotheke? Ich versuchte es zuerst am sehr vielsprechenden Wochenmarkt, von dem ich wusste, dass es dort viele ausländische Verkäufer gab. Der erste Grieche beantwortete meine Frage in fließendem Deutsch: Ich weiß was Sie meinen – Maisgrieß, da gehen Sie am besten zum nächsten türkischen Stand. Der äußerst beschäftigte Türke umarmte mich fast nach meiner Polenta-Frage und sagte herzlich: „Ja – Du Polenta – ich Türk!“ Gut – bei einem Türken hätte ich nicht nach Polenta (er verstand Pole) fragen dürfen, ich bekam auch keinen „Maisgrieß“, aber immerhin wusste ich jetzt, dass sich im Ausland sogar Türken und Polen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner – nicht Deutscher zu sein – heimatlich verbunden fühlen können. Diese kleine Geschichte zeigt, dass der sehr komplexe Heimatbegriff u.a. damit zu tun haben kann „etwas nicht zu sein“, sie zeigt leider auch, dass beides, nämlich „etwas zu sein“ wie „etwas nicht zu sein“ andere Menschen grundsätzlich ausgrenzt. Diese Feststellung ist nicht befriedigend, sollte jedoch niemanden davon abhalten, sein wie auch immer geartetes Heimatgefühl zu bewahren, sofern es nicht nationalistisch und durch vergangene Helden geprägt ist.
In dem sehr nützlichen Internetlexikon WIKIPEDIA wird der Heimatbegriff so beschrieben:
„Das deutsche Wort Heimat verweist auf eine Beziehung zwischen Menschen und Raum. Allerdings ist die geographisch-historische Eingrenzung der Bezugsräume keine feststehende, sondern situationsbedingt verschiebbar“.
Eine gute, leider jedoch sehr allgemeine Definition – vor allem stören die Worte „situationsbedingt verschiebbar“. Wer sich als waschechter Tiroler fühlt, wird eine solche Verschiebbarkeit nicht akzeptieren – Tiroler sind zwar flexibel und haben im Ausland nicht zuletzt deswegen fast immer Erfolg, sie lassen aber ihren angestammten Heimatbegriff nicht so einfach verschieben. Tiroler lassen sich insgesamt nicht gern ins Ausland verschieben (Tirol ist Tirol), sie fliegen zwar gerne nach Kathmandu (weil es dort auch Berge gibt) oder nach Ägypten (weil es dort keine Berge gibt) – etwas Tirol nehmen sie dabei immer mit auf den Weg, sobald sie die Nordkettenregion verlassen (oder?). Ein Tiroler hat erst dann ein tiefergehendes Weltbild, wenn er seine Heimat für etwas längere Zeit verlassen hat – sonst bleibt das Weltbild auf Sport, Theater und durchaus auch Kultur im weiteren Sinne eingeschränkt. Natürlich mag das auch für andere Regionen gelten – für Niederländer gilt es jedenfalls nicht. Holländer haben ein kosmopolitischeres Weltbild – vermutlich weil das umgebende Wasser keine den Bergen vergleichbare Schutzzone bietet.
Schwieriger sind andere Regionen und Nationen zu beurteilen. Italiener haben einen ausgeprägten Heimatsinn, der sich u.a. ganz besonders auf Essensgewohnheiten bezieht – sie nehmen, wenn sie im Wohnwagen nach Deutschland auf Urlaub fahren eigene Spaghetti und olio olive vergine mit, auch Engländern traut man Vergleichbares zu (Tee statt Spaghetti). Fast alle Franzosen schwärmen liebevoll von Paris, auch wenn sie aus der Bourgogne kommen, Dijon als Hauptstadt der Bourgogne folgt dann unmittelbar danach. Einen hübschen Heimatbegriff enthält der Text „Douce France“ (Charles Trenet), besungen im gleichnamigen Chanson von Juliette Greco, der Text geht weiter mit „cher pays de ma enfance“. Diese Worte (süßes Frankreich, teures Land meiner Kindheit) treffen den uns geläufigen Heimatgedanken schon eher, denn Heimat hat offenbar sehr viel mit (angenehmen) Kindheitserinnerungen zu tun. Ein Wiener ist allerdings zuerst immer Wiener – gleichgültig ob er eine angenehme oder unangenehme Kindheit hatte und nach weiteren Fragen – outet er sich dann etwas zögernd auch als Österreicher. Nicht nur in diesem Punkt unterscheiden sich die Österreicher. Ein Innsbrucker fühlt sich zum Beispiel zuerst als Tiroler und nicht als Innsbrucker. Und wie ist das in anderen Ländern? Um diese Frage zu beantworten, muss man mit vielen Ausländern diskutiert haben und anschließend diverse Lexika bemühen (oder besser umgekehrt, denn viele der in Sprachlexika genannten Ausdrücke werden von Ausländern zunächst gar nicht verstanden, sodass man ihnen eine Vielzahl von Worten ihrer eigenen Muttersprache anbieten muss, um zumindest eine gewisse Gesprächsbasis zu haben).
Im Englischen werden mehrere Begriffe für das Wort „Heimat“ genannt: home, at home, in my country, where I come from, my folks… es ist nicht so leicht, das richtige Wort zum richtigen Anlass zu finden. Einfacher ist das im amerikanischen Englisch, weil es in den USA tatsächlich keinen Heimatbegriff gibt. Zwar findet man auch dort den Begriff „home“ – das bedeutet aber nichts anderes als das Haus, in dem man gerade wohnt. Amerikanern gefällt es dort, wo sie arbeiten und Geld verdienen (Detroit, New York, Boston ?) – d. h. New York macht doch eine Ausnahme: der erfolgreiche New Yorker hat einen gewissen Snobbismus, der – ähnlich wie beim englischen Bloomsbury Intellectual, als eine Art Heimat aufgefasst werden kann. Seit der Zerstörung des Word Trade Centers gibt es in den USA neuerdings den Begriff „Home Security“, wobei die Übersetzung „innere Landessicherheit“ doch ziemlich weit vom deutschen Heimatbegriff abweicht – und dann gäbe es noch die illusionäre Wildwestromantik, die mit dem Lied „My home is the ranch“ eine Vergleichsbasis darstellen könnte. Dieses „home“ ist zwar etwas größer als das Haus des Durchschnittsamerikaners, mit unserem Heimatbegriff aber trotzdem nicht vergleichbar, selbst wenn das Areal der Ranch größer wäre als Tirol. In Spanien gibt es viele Worte: el pais, la patria, el suelo natal, la tierra, la tierruca. Von allen diesen Begriffen kommen el suelo natal und das familiäre la tierruca dem deutschen Heimatbegriff am nächsten – auch wenn la tierra die Welt, den Boden – sogar Fußboden – und eben auch „Heimat“ einschließt. Der Versuch, mit Ausländern über dieses Thema zu sprechen, führt zu der Erkenntnis, dass die meisten Länder den Begriff Heimat entweder nicht verstehen, oder dass sich ihre Vorstellung davon deutlich von der unseren unterscheidet.
Wie man sich dem Thema auch nähern mag, lösen lässt sich das Problem nicht, man landet stets in einem sich überlappenden Dschungel von rassistischen, ethnischen, regionalen, historischen und immer wieder nationalen Gesichtspunkten (letzteres nicht nur bei der älteren Generation, sondern auch bei Jugendlichen der neuen EU-Beitrittsländer). „Heimat“ gehört demnach wohl zu den nicht so seltenen Problemthemen, bei denen man durch Doktorarbeiten dem Ziel nicht näher kommt, sondern sich immer weiter davon entfernt. Das bewies auch eine literaturwissenschaftlich interessante Tagung in Dresden (2006) zu diesem Thema, bei der ein Wissenschaftler (Steffen Hendel/ Halle) den Heimatbegriff in einem literaturwissenschaftlichen Vortrag „Ich lebe am liebsten am Bahnhof – Reise und Identität in der fiktionalen Gegenwartsliteratur“, hinterfragte.
Die Zukunft des Heimatbegriffs könnte noch komplizierter werden, denn inzwischen mehren sich Anzeichen, dass dieser Begriff neuerdings mit dem noch schwieriger abzuhandelnden Begriff „Natur“ zu verschmelzen droht. Da wären dann wissenschaftliche Abhandlungen mehrerer Jahrhunderte zu studieren – die Frage „Was ist Natur?“ hat schon viele Gelehrte ohne nennenswerten Erfolg beschäftigt. Zusätzlich ist zu befürchten, dass mit dem Naturbegriff auch ökologische Gesichtspunkte das Thema weiter komplizieren könnten. Die Feststellung „ich bin dort zuhause wo die Luft am reinsten ist“ oder „Heimat ist dort, wo es schön ist“ (- selbst wenn ich keine Arbeit habe) ist bis jetzt noch keinem Grünaktivisten über die Lippen gekommen.
Schließlich gelangt man zu der Erkenntnis: Das einzig Konstante, das den Heimatbegriff zusammenhält, ist wohl die Tatsache, dass dieser Begriff einem stetigen Wandel unterworfen ist. Es gibt jedoch auch Hoffnung – zumindest für ein Europa der ferneren Zukunft: wenn sich die neuen nationalen Wellen der Ostländer etwas abgeflacht haben, könnten kulturelle Gemeinsamkeiten und kulturelle Eigenständigkeiten zu einem neuen Heimatbegriff heranreifen.
Wir Österreicher, Bayern und Schweizer wissen es allerdings besser und die Tiroler am allerbesten: "Tirol is lei oans, isch a Landl a kloans… " und wer es nicht glaubt, dem ist nicht zu helfen (oder?).
An dieser Stelle bedarf es eines ergänzenden Nachsatzes zur Rehabilitierung des traditionellen Tiroler Heimatbegriffes: Der Autor ist in Hannover geboren, war als fünfjähriger „Kleinösterreicher“ sechs Monate in Aldrans (bei Innsbruck). In Erinnerung blieben die weißbeschneiten Berge der Nordkette und die Margaritenwiesen im Frühling des Mittelgebirges. Wegen der unvermeidlichen Einschulung musste der Autor nach Deutschland zurück, um dort die Bombenangriffe 1943 und den Einmarsch der Sowjetarmee 1945 im Osten Deutschlands zu überleben. 1946 durfte er nach Innsbruck zurück, um von autoritären – aber gerechten Lehrern so erzogen zu werden, dass er später die Weihen für das Doktorat der Chemie und Philosophie an der Universität Innsbruck empfangen und eine dreißigjährige Berufszeit in Deutschland erfolgreich bewältigen (und überstehen) konnte. Warum sollte ich nicht nach Innsbruck zurückkehren um dem altmodischen Heimatsbegriff jene problematische Hochachtung zu zollen, der mir eine glückliche, wenn auch anstrengende Schul- und Studienzeit erlaubte … cher pays de ma enfance! Tirol ist auch heute (ohne Andreas Hofer) eine gute Heimat, so wie es viele gute Heimaten gibt.
(2008)
Anm.: Nach einer langen Publikationstätigkeit in Printmedien war dieser Beitrag mein erster online-Beitrag in startblatt.net, das heute nicht mehr existiert, aber zu einer 7-jährigen fruchtbaren Tätigkeit geführt und zu Kontakten führte, die ich heute nicht mehr missen möchte. Bald wurde ich einer der Administratoren dieses Magazins, in welchem auch mein erster Blog der "Igler Reflexe" als Idee entstand. Das Magazin gibt es schon lange nicht mehr - für die "Igler Refelexe" wünsche ich mir eine längere Zukunft.
(redigiert 12.06.2021)