Dorf-Ästhetik
Wer kennt nicht die stolzen Gesichter von BürgermeisterInnen die in Fernseh-Interviews über ihre neuesten Gemeinderatsbeschlüsse berichten: wieder ein Großhotel mit Wellnesscenter, wieder eine Seilbahn, wieder neue Solaranlagen…wieder ein Schritt in die Zukunft der Dorfvernichtung!
Inzwischen lassen sich manche Dörfer kaum mehr von einander außer durch ihre Bergkulissen unterscheiden, über die sich BürgermeisterInnen und GemeinderätInnen zwar freuen dürfen, die jedoch nicht in ihren Kompetenzbereich fallen, weil die Tiroler Berge bereits vor ihrer Wahl vorhanden waren.
Ein „Tiroler“ Dorf muss heute den eisernen Gesetzen der Touristikbranche gehorchen: möglichst viele Touristen, Belebung der Wirtschaft, möglichst viele neue Arbeitsplätze im Tourismusgewerbe, möglichst viele moderne Event-Scheußlichkeiten und in einigen Dörfern inzwischen auch über den ganzen Ort verteilte und nicht nur an den Dächern angebrachte Solaranlagen(1). Ob Touristen das auch in ein bis zwei Jahrzehnten noch so schätzen, ist fraglich. Immer mehr Besucher der Alpengebiete suchen nach Ursprünglichkeit – vermutlich als Gegengewicht zu ihrer gewohnten Arbeitswelt in unseren modernen Großstädten und es ist kein Geheimnis, dass ein Teil der gesuchten Ursprünglichkeit heute oft künstlich justiert wird. Es geht hier nicht um Orte wie Kitzbühel, Seefeld oder in den Arlberger Schigebieten – wer seinen Urlaub dort bewusst bucht, schätzt auch das Highlife des Après-Sky. Gemeint sind die vielen kleinen Urlaubsorte die miteinander konkurrieren, um ihren Gästen ein bisschen Flair wie in den vorher genannten Orten zu bieten. Allerdings sollte die Erziehbarkeit moderner Menschen zur Unästhetik nicht überschätzt werden.
Was bedeutet Ästhetik?
Der ursprünglich im alten Griechenland nur als „Wahrnehmung“ (Empfindung) entstandene Begriff hat sich im Lauf der Zeit in vielen Wissenschaften etabliert.
Insgesamt schließt Ästhetik seit Homer stets den „Harmoniebegriff“ ein, wobei in den modernen Kunsttheorien Begriffe wie „schön“ und „gut“, die bereits Sokrates im Zusammenhang mit Ästhetik beschreibt, zu Recht kritisch betrachtet werden – tatsächlich sind „gut“ und „schön“ bekanntlich subjektive Begriffe. Und doch kann auch die moderne Kunsttheorie den Kant’schen a priori Gedanken zur Ästhetik(2) nicht ganz leugnen – zu oft führen gelegentliche Übertreibungen ins allzu Hässliche oder Provozierende dann automatisch wieder zu „harmonischen Entwicklungen“ (was immer man darunter verstehen mag) zurück.
In der Musik ist dies bereits jetzt offenkundig, in den bildenden Künsten lässt diese Entwicklung noch etwas auf sich warten. Noch stoßen Kunstausstellungen zeitgenössischer Kunst und solche alter Meister auf gleich großes Interesse. Wie viel von unserer „zeitgenössischen Kunst“ in 200 Jahren noch übrig bleiben wird, können wir nicht beurteilen. Doch zurück zur „Dorfästhetik“
Die Zukunft der Dörfer
Wenn über „Dorfästhetik gesprochen wird, sollte man sich zunächst Gedanken darüber machen, wie unsere Dörfer in Zukunft aussehen sollen - und ob sie überhaupt noch in unsere Zeit passen.
Nach den Städtegründungen im Mittelalter, doch auch bereits in der Antike, bestanden dörfliche Gemeinschaften aus Bauern und jenen Handwerkern, die für die Erzeugung aller Gegenstände des landwirtschaftlichen Bereichs und des täglichen Lebens erforderlich waren. Im Mittelalter kamen Kirchen, Gastwirtschaften und zum Teil auch bereits Volksschulen hinzu. Es ist kaum anzunehmen, dass die Dorfeinwohner ein „ästhetisches“ Gefühl besaßen, in jedem Fall hatten sie ein Gefühl für Harmonie, insbesondere auch in den ärmeren Bergdörfern Süd- und Nordtirols (vielleicht im Sinne des Kant’schen a priori?), was wir an den Gebrauchsmöbeln und Werkzeugen früherer Zeit erkennen und was wir heute als Kostbarkeiten in Volkskunstmuseen bewundern dürfen. Viele solcher Gegenstände (Bauernschränke und Truhen) finden wir heute, teuer gekauft, auch in modernen Stadtwohnungen. Zu Beginn der Wirtschaftswunderzeit konnte man solche Möbel noch sehr preiswert erwerben, weil viele Bauern ihre heute wertvollen Stuben in den Nachkriegsjahrzehnten billig verkauften und durch „zeitgemäße“ Kaufhausmöbel ersetzten – was zur erwähnten Annahme führt, dass es ein „ästhetisches Gefühl“ auch damals nicht gab, sondern die alten Gegenstände über Jahrhunderte eher im Sinne eines vorhandenen Harmoniebewusstseins hergestellt wurden, ein Bewusstsein, das heute offenbar, wie in vielen Lebensbereichen unserer Zeit, verloren gegangen ist.
Die Einwohner von Dörfern haben fast keine andere Wahl, ihre Zukunft im Event-Tourismus zu suchen. Die landwirtschaftliche Nutzung in den Bergdörfern Südtirols oder den Seitentälern des Oberinntals ist heute völlig unrentabel. Die ehemaligen Bauernhäuser werden zu riesigen Bettenburgen im „Alpenlook“ aufgeblasen, wobei der Charme der alten Häuser in dem Maße verloren geht, als sich ihre Ausmaße vergrößern und als „Bauerhaus-Wolkenkratzer“ mit alpenländischen Balkonen und Lüftlmalerei in eine dafür nicht passende Landschaft gestellt werden. Dass diese Hotelungetüme über Wellnesscenter und Golfplätze verfügen, ist fast schon selbstverständlich, selbstverständlich ist aber auch, dass die so umgestalteten und durch moderne Appartementanlagen umrahmten Dörfer eigentlich keine Dörfer mehr sind. Wenn wir ehrlich sind, gibt es – zumindest im Alpengebiet mit ganz wenigen Ausnahmen keine ursprünglichen Dörfer mehr. Eingemeindungen in benachbarte Städte oder die Zusammenlegung von Gemeinden sind der letzte bürokratisch-rationale Vollzug der Dorfvernichtung – da nützt es wenig, wenn überall alte Bräuche wieder „revitalisiert“ werden, denn diese oft vergessenen und heute künstlich reanimierten Brauchtumsformen Zeit entsprechen exakt den sterilen Dorfanlagen unserer Zeit und sind im Grunde lediglich Zugeständnisse an die Touristikindustrie und kein echtes Bedürfnis der Bewohner. Leider lassen sich Brauchtumsumzüge nur schwerlich in Volkskundemuseen integrieren und deshalb müssen wir uns vermutlich an die jährlich wachsenden „alten Bräuche“ gewöhnen, wobei insbesondere die Jugend bereits immer weniger zwischen heimisch traditionellen Bräuchen und „Halloween“ unterscheidet.
Auch der Unterschied zwischen Sommer- und Wintertourismusorten verschwindet zunehmend. Seilbahnen nur für den Wintersport zu bauen, rechnet sich weder für Seilbahnbetriebe, noch für die überdimensionierten Hotelbetriebe. Die Bettenkapazität und der Hotelkomfort machen unsere Feriendörfer zwar für den Augenblick rentabel, in Zukunft ist es jedoch nur noch eine Frage des Preises, ob deutsche, französische, slowenische oder gar russische Ferienorte uns einmal den Rang ablaufen werden. Viele der berühmten schweizerischen Ferienorte haben den Zenith ihrer Berühmtheit ausschließlich wegen der hohen Preise bereits überschritten.
Sicherlich gibt es noch vereinzelt schöne und weitgehend ursprüngliche Dörfer in unseren Alpenlandschaften – nicht alle der in den Südtiroler Wanderbüchern von Josef Rampold(3) oder von Probst Weingartner(4) beschriebenen Dörfer und Kunstschätze sind heute noch so intakt wie man das noch vor wenigen Jahrzehnten bei Wanderungen in Südtirol so erlebte und wie dies von Rampold beschrieben wurde.
Resumée: Wenn sich unsere Dörfer dem Massentourismus weiterhin so ausliefern, wie dies wahrscheinlich ist, gefährden sie ihre individuelle Existenz und verschwinden allmählich für immer. Ähnliches gilt auch für viele noch naturnahe Dörfer in Rumänien oder gar in der Mongolei, Dörfer, die man wohl bald besuchen müsste, obwohl der Degenerationsprozess dort vermutlich etwas länger brauchen wird - immerhin gibt es, wie Reisende berichten, in der Mongolei bereits Jurtensiedlungen, in denen der für das Handy benötigte Strom von an einem Wäscheseil aufgehängten Solarzellen gespeist wird.
(28.10 2014, redigierte Fassung von 2012)
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(1) Der von Beschneiungsanlagen für Schi-Pisten verbrauchte Strom ist enorm und von Solaranlagen nicht annähernd produzierbar: ca. 5KWh/m³ Schnee (bei - 3° Celsius)
(2) Kant versteht unter seiner „Transzendentalen Ästhetik“ die Prinzipien der sinnlichen Wahrnehmung, die unabhängig von der Erfahrung („a priori“) dem menschlichen Erkenntnisprozess zugrunde liegen. Er kommt zu dem Schluss, dass die Vorstellungen von Raum und Zeit notwendige Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Gegenständen sind und diese deshalb dem Menschen vor der Erfahrung bereits gegeben sein müssen. Auch die Fähigkeit Form zu erkennen, d. h. die Fähigkeit, die erfahrbare Welt („das Mannigfaltige“) nach bestimmten Verhältnissen zu ordnen, liege „a priori“ im Menschen vor. (Wikipedia-Zitat).
(3) Josef Rampold (1925-2007), Bergsteiger, Journalist und Autor, 1981-1995 Chefredakteur der „Dolomiten“, zahlreiche Wanderbücher.
(4) Probst (Josef) Weingartner (1885-1957), Kunsthistoriker, Denkmalpfleger. Seine Bücher „Die Kunstdenkmäler Südtirols“ (4 Bde. 1920-1930, 7 Auflagen bis 1990 (Bozen, Innsbruck, Wien) und „Bozner Burgen“ (Innsbruck 1922, 3. Auflage Innsbruck 1962) sind nach wie vor kunsthistorisch wertvoll.