Der November ist kein "Mensch ärgere dich nicht" Spiel
Josef schaute routinemäßig bei Tagesbeginn auf den Wandkalender und sah, dass heute der 8. November und dieser rot eingekreist war. Was bedeutete die Markierung dieses Tages? Josef erinnerte sich nicht, dass der 8. November irgendein ein besonderer Tag war. Niemand hatte seines Wissens Geburtstag (außer die vielen auf der Welt, die er persönlich nicht kannte), es gab auch keine Einladung der er folgen musste und kein kulturelles Ereignis, das zu besuchen Josef sich vorgenommen hatte – nichts, rein gar nichts, außer dass heute der 8. November war und er diesen wegen irgend etwas gekennzeichnet hatte. Zum Glück führte Josef eine Art Tagebuch, in das er normalerweise nur Eintragungen über Erlebnisse bereits vergangener Tage oder wichtige Gedanken notizartig schrieb, die er später wenn er Zeit hatte, wieder aufnehmen wollte, um sie etwas gründlicher zu durchdenken. Vorerst fand er für November nur eine nicht datierte Notiz: „der November ist kein Mensch ärgere dich nicht Spiel“. Josefs erster Gedanke dazu war ein geistiges Fragezeichen, nach und nach erinnerte er sich daran, dass er über den „November“ nachdenken wollte und weil er trotz roter Kennzeichnung in seinem Kalender offenbar heute Zeit hatte, beschloss er, über den November 'im allgemeinen und im besonderen' nachzudenken.
Was das Allgemeine betraf so drängte sich Josef zunächst die Frage auf, warum der November als elfter Monat nicht Undezimember oder so ähnlich hieß, diese Frage konnte jedoch durch google schnell beantwortet werden. Josef schämte sich auch nur kurz seiner Bildungslücke: „im römischen Kalender war der November ursprünglich der neunte Monat, im Jahr 153 v. Christus wurde der Jahresbeginn um zwei Monate vorverlegt“. Wer sich ständig seiner Bildungslücken schämt, sollte mit dem Schämen gar nicht erst anfangen – dazu ist das Leben zu kurz! Dass der November grau und trist ist, gehört zu den trivialen Allgemeinheiten des Novembers, sofern man nicht gerade in Buenos Aires oder gar in Australien lebt.
Was das „Besondere“ im November betraf, so fürchtete sich Josef etwas davor, darüber nachzudenken – immer wenn er über etwas Besonderes nachdachte wurde er schwermütig, es war also kein Fehler, sich vorher ein Glas Rotwein einzugießen, dem gegebenenfalls weitere folgen konnten.
Josef blieb bei dem Satz seines tagebuches hängen: „der November ist kein Mensch ärgere dich nicht Spiel“. Josef erinnerte sich genau, warum er diesen Satz nur notizenartig in sein Tagebuch eingetragen hatte – er war sich der Tragweite des Satzes damals sehr bewusst. Bei diesem Spiel können die Spieler immer wieder zurückgeworfen werden, durch einfaches Würfeln jedoch wieder von vorne anfangen. Das gilt sowohl für den November, als auch für den tiefsinnigen Vergleich mit seinem bisherigen Leben. Der November war sozusagen der Prüfstand seines Lebens und ein erstes vorsichtiges Überdenken fiel vorläufig nicht günstig aus. Ja – er hatte als Pfadfinder in seiner Jugend ein- oder zweimal einer alten Frau über die Straße geholfen. Mit zunehmendem Alter interessierte er sich jedoch eher für jüngere Frauen und den Satz aus Goethes Faust – „bin weder Fräulein, noch bin ich schön, kann ungeleitet nach Hause gehen…“ Bevor Josef weiter über sein Leben nachdachte, genehmigte er sich vorsichtshalber das erste Glass Rotwein. Dann fielen ihm die zunehmend hübscheren Mädchen seiner Jugend ein – vorübergehend hellte sich seine Stimmung etwas auf, was ihn so froh stimmte, dass ein zweites Glas Rotwein gerade richtig war. Und dann kam das „Leben“ - er heirate (glücklich), hatte Kinder und einen anstrengenden Beruf, der immer anstrengender wurde, sodass allein die Erinnerung daran zwei weitere Gläser Rotwein erforderlich machte. Und jetzt war es auf einmal November – der Prüfstand seines Lebens! Gut - der November war ja noch nicht zu Ende und schließlich gab es auch noch den Dezember. Je mehr er nachdachte, desto mehr wurde ihm bewusst, dass er noch einiges nachzuholen und vieles wieder gut machen musste, was er in seinem Leben und besonders in letzter Zeit versäumt hatte. Um dafür Mut zu schöpfen trank er den Rest der Rotweinflasche aus, danach reichten seine Kräfte gerade noch, um in seinem Kalender den 9. November mit einem Rotstift dick zu markieren – morgen würde ihm dann schon wieder einfallen, warum er den 9. November markiert hatte.
(8.11.2013)