Lässt sich durch Geschichte politisches Bewusstsein schaffen?
Mein Geschichtsunterricht in den Jahren von 1946-1954 in Österreich entsprach nicht den Vorstellungen moderner Geschichtsdidaktik, sondern eher dem reproduktiven Lernen. Heute herrscht „Denkfachorientierung“ bzw. die Entwicklung und Förderung von Geschichtsbewusstsein vor. Ein weiteres Ziel ist die „Multispektivität“, also die Berücksichtigung mehrerer historischer Perspektiven, sowohl auf der Ebene der historischen Wahrnehmung (Quellen) als auch bei Deutungen (Darstellungen, Literatur) und der sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen. Das Leitziel des Geschichtsunterrichts soll die Schüler in die Lage versetzen, auch nach Ende der Schulzeit ohne Anleitung selbstständig historisch zu denken. Wird dieses Ziel im heutigen Unterricht tatsächlich erreicht?
Der Geschichtsunterricht der Nachkriegszeit soll hier nicht verteidigt werden, Geschichte war kein spannendes Fach, es wurde jedoch Faktenwissen vermittelt, das als Ausgangsbasis aller Formen eines Geschichtsunterrichtes, wenn auch nicht im damaligen Umfang notwendig wäre und das im modernen Geschichtsunterricht in Österreich und Deutschland immer mehr fehlt.
Faktenwissen und Geschichtsbewusstsein
Gut recherchierte Fakten bleiben Fakten, sofern die Quellen vertrauenswürdig sind. Geschichtsbewusstsein ist grundsätzlich eine nachträgliche Deutung, die aus einer bestimmten Sichtweise (im ungünstigsten Fall „Ideologie“) geprägt ist. Der moderne Geschichtsunterricht scheitert oft aus zwei Gründen: a) Faktenwissen wird den SchülerInnen nicht im eigentlich erforderlichen Maße vermittelt, weil es mit sinnlosem Auswendiglernen verwechselt wird und b) das Geschichtsbewusstsein wird den SchülerInnen in neuerer Zeit oft in sehr ideologisierter Form bzw. aus dem in einer Zeit gerade vorherrschenden soziologischen Trend „bewusst“ gemacht. Das eingangs geschilderte Ziel scheitert im modernen Geschichtsunterricht meist an der Differenz von a) und b).
Anm.: Anlässlich des 60-jährigen Jahrestags der Revolution von 1953 innerhalb der DDR wurden die geschichtlichen Zusammenhänge in einer Runde des MDR-Fernsehen diskutiert, an der auch eine sächsische Gymnasiastin und ein junger Historiker aus Berlin teilnahmen. Die Schülerin hatte in ihrem Geschichtsunterricht von diesem wichtigen historischen Ereignis praktisch nichts im Unterricht gehört, obwohl das Ereignis eine Kette anderer Revolutionen in Polen (1956 und 1970), Ungarn (1956) und den Prager Frühling (1968) bis hin zu den Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderen Städten (1989) einleitete, die letztlich zum Zusammenbruch der UDSSR führten. Erschütternd war in der Abschlussrunde der MDR-Sendung die Antwort eines jungen Berliner Historikers auf die Frage „Was bedeutet für Sie der 17. Juni 1953 ?“: „Der 17. Juni erinnert mich an den Geburtstag meiner Freundin“.
Als Absolvent des Gymnasialunterrichtes zu Beginn 1946 muss man sich die Frage gefallen lassen, was einem selbst vom damaligen Geschichtsunterricht übrig geblieben ist, besonders wenn einen das Fach nicht sehr interessierte und anschließend ein Großteil „Faktenwissen“ verloren ging. Aus späterer Sicht genügte jedoch der beachtliche Rest dazu, in späteren Jahren bei Interessierten ein Geschichtsbewusstsein aufzubauen, das ohne dieses Restwissen an Fakten kaum möglich gewesen wäre. Eine Ausweitung des Geschichtsbewusstseins war schon deswegen erforderlich, weil der damalige Geschichtsunterricht sowohl in Deutschland, als auch in Österreich mit der „Weimarer Republik“ endete, ohne die Zusammenhänge zu erklären, welche dazu führten – das Kapitel des Zweiten Weltkrieges wurde verständlicherweise damals noch vollkommen ausgelassen.
Für die heutige Jugend ist der erste Weltkrieg und der Zweite Weltkrieg fast so weit entfernt wie der „Dreißigjährige Krieg“. Für die Generation des Autors ist der „Zweite Weltkrieg“ dagegen noch sehr präsent – einerseits weil, die meisten diese Zeit in ihrer Kindheit noch selbst erlebt hatten und, weil die fehlenden Glieder durch Erzählungen der Eltern- und Großelterngeneration ein zwar nicht unbedingt objektives Bild ergaben, welches jedoch mit anderen Bildern dieser Zeit abgeglichen werden konnte.
Die wahren Hintergründe des "Ersten Weltkrieges, die Jahre nach 1918 sowie der „Zweite Weltkrieg“ wurden inzwischen durch Dokumentationsfilme recht gut aufgearbeitet, daher sollten solche Filme einen festen Platz im modernen Geschichtsunterricht haben. Dass diese Kenntnisse ganz wesentlich dazu beitragen, die Notwendigkeit der Europäischen Union zu verstehen, steht außer Zweifel - die Frage ist nur, ab welchem Alter diese Zeit der Jugend nahegebracht werden kann.
Muss der Geschichtsunterricht mit der Antike anfangen?
Ich meine „ja“, weil alle späteren geschichtlichen Entwicklungen Europas (einschließlich Nordamerikas) bis hin zur Europäischen Union, eine fast logische Folge früherer geschichtlicher Ereignisse sind. Selbst in den Ländern des nahen Ostens und in den Maghrebstaaten stoßen wir immer wieder auf geistige Wurzeln der Antike, die durch die Islamisierung verschüttet wurden, was jedoch zu einem Teil Ursache der heutigen Auseinandersetzungen zwischen gemäßigten und radikalen Islamisten ist.
Man muss ganz einfach wissen, dass sowohl die alten Griechen, als auch die Römer Seefahrernationen waren, viele naheliegende Staaten erobert hatten (die Römer kamen bei ihrer Eroberungsfeldzügen bekanntlich bis nach England) und dass dadurch die Kultur der Antike auch unsere Breiten erreichte.
Der heutigen Jugend ist kaum zuzumuten, dass sie, wie in den Gymnasien der Nachkriegsjahre bereits in den ersten beiden Klassen sämtliche Kriege und Herrscher und die Zwistigkeiten innerhalb der unterschiedlichen Reichsgebiete Griechenlands bzw. mit Völkern wie den Persern im Süden und den Etruskern im Norden (einschließlich Jahreszahlen) kennen müssen. Das führt allerdings zu der Frage, was man heutigen SchülerInnen überhaupt an Detailwissen in Bildungsfächern wie Literatur oder Geschichte zumuten darf, nachdem diese in anderen Fächern (z.B. Physik, Chemie, Biologie) oft mit viel zu theoretischem, fast universitärem Detailwissen vollgepfropft werden, anstatt auch hier in erster Linie Basiswissen zu verankern.
Die Antike eignet sich besonders dazu, um bereits in frühen Jahren aufzuzeigen, welche Staatsformen es gibt und dass Geschichte nicht in kurzen Zeiträumen gemessen bzw. beurteilt werden darf - dies kann zehnjährigen Schülern durchaus vermittelt werden. Wer weiß, dass sich die griechische Geschichte über ca. 800 Jahre erstreckte, bevor sie durch die lange Römerzeit (ca. 1500 Jahre) abgelöst wurde, versteht auch, dass in solchen Zeiträumen sowohl geografische als auch historisch wichtige Veränderungen selbstverständlich waren und dass Geschichte daher kein statischer Zustand ist, wie dies heute durch den medialen Überfluss an Augenblicksereignissen in Ländern wie Ägypten, Irak, Iran, Libyen, Syrien etc. fahrlässig vermittelt wird. Es ist ferner wichtig zu vermitteln, dass die alten Griechen kein Nationalgefühl kannten (auch die EU kennt als Staatenbund im Gegensatz zu den USA kein Nationalgefühl). Die drei Kerngebiete Griechenlands (Makedonien, Sparta und Athen) waren von der „Polis“, also durch Städte wie Sparta, Theben oder Athen bestimmt, die in wechselnden Regierungsformen und Bündnissen sich gegenseitig bekämpften. Diadochenkämpfe, Tyranis und erste Republikformen können Schülern bereits so vermittelt werden, dass das Wesen dieser Regierungsformen verstanden wird und Vergleiche mit modernen Regierungsformen angedeutet werden können. Ganz ohne Rahmendaten (Jahreszahlen und Namen bedeutender Herrscher) wäre ein Geschichtsunterricht jedoch wohl kaum sinnvoll, weil Geschichtsbewusstsein den Vergleich mit anderen Geschichtsepochen ermöglichen soll. Die Antike ist auch schon deswegen am Anfang des Geschichtsunterrichtes von größter Bedeutung, weil Griechenland (mit seinen großen Philosophen), die Römerzeit und das Christentum die Wiege der abendländischen Kultur bedeuten, die später auch nach Nordamerika und in viele andere Regionen der ganzen Welt exportiert wurde. Wie weit auf Einzelheiten der Auseinandersetzungen der Griechen mit dem Großreich der Perser eingegangen werden soll, ist im frühen Geschichtsunterricht zwar fraglich, ebenso wie die didaktische Breite hinsichtlich der Eroberungskämpfe der Römer bei ihrer Ausbreitung nach Norden. Nur - wann sollten die wichtigsten dieser Fakten gelehrt werden, wenn nicht am Anfang der Gymnasialzeit? Die Tragik der modernen Schulexperimente besteht ja gerade darin, das die SchülerInnen heute gleichzeitig unterfordert und überfordert werden.
Ziel eines modernen Geschichtsunterrichtes im gesamten Verlauf der Gymnasialzeit wäre es daher zu versuchen, den SchülerInnen, beginnend mit der Antike (Griechenland und Römerzeit, dem europäischen Mittelalter bis hin zur Neuzeit) die wesentlichen Grundzüge jeder Epoche so darzustellen, dass diese wie eigenes Erleben durch eine Art „Erzählen“ nahe gebracht werden. Das erfordert Fantasie der SchülerInnen (die bereits bei Zehnjährigen durchaus vorhanden ist), aber auch Fantasie der Lehrenden, welche durch ihr allzu theoretisches Pädagogikstudium oft nur noch rudimentär vorhanden ist.
„Geboten ist jeweils eine didaktische Reduktion auf das verständliche Maß“, siehe „Zur Abbildungsdidaktik“(1)
Es ist zu hoffen, dass diesem „verständlichen Maß“ in Zukunft nicht all zu viele Fakten geopfert werden. Wenn das gelänge, kann durch Geschichte tatsächlich „Bewusstsein“ geschaffen werden, vor allem auch in der Hinsicht, Gegenwartsereignisse nicht überzubewerten und diese in einen notwendigen Kontext zu stellen.
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(23.10.2014, völlig überarbeiteter und gekürzter Betrag aus 2013. Die Idee zu diesem Beitrag entstand durch ein Foto anlässlich einer Reise mit der "Pfarre Igl/ Vill", 2013, die u.a. auch nach Leipzig führte. Leipzig ist eine elegante, sehenswerte Stadt, die in südlicheren Teilen Deutschlands oder in Österreich viel zu wenig bekannt ist. Die Stadt verbindet alte und moderne Architektur in nachahmenswerter Weise, hat elegante Geschäfte in der Innenstadt und entspricht so gar nicht den üblichen Vorstellungen einer ehemaligen "DDR-Stadt" )
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(1) In der Bundesrepublik Deutschland, Österreich, der Schweiz sowie in Italien und den Niederlanden ist der Geschichtsunterricht Hauptgegenstand der wissenschaftlichen Disziplin der
Geschichtsdidaktik. In anderen Ländern gibt es lediglich eine pragmatische Geschichtsmethodik . Die verbreitete Vorstellung, dass es die Hauptaufgabe des Geschichtsunterrichtes sei, die jeweils
aktuellen Ergebnisse der Geschichtswissenschaft den Schülern einfach zu vermitteln, („Abbildungsdidaktik“) ist aus geschichtstheoretischen wie pädagogischen Gründen nicht haltbar. Trotzdem bleibt die
Geschichtswissenschaft als Fachdisziplin eine wesentliche Orientierungsinstanz für Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht (Wikipedia Enzyklopädie)