Was ist Spekulation – und wo fängt sie an?
Bei dem vorangestellten Bild fängt Spekulation sicher nicht an – eher wird die Fantasie beflügelt!
Das Wort Spekulation leitet sich vom lateinischen Wort „speculari“ ab, was zunächst nur „spähen“, „beobachten“ oder „etwas von einem erhöhten Standpunkt aus betrachten“ bedeutet. Vielfach wird das Wort heute in dem Sinne gebraucht, dass man aus der Betrachtung der Vergangenheit und der Gegenwart auf die Zukunft schließt (Extrapolation). Das ist zwar in allen Wissenschaften üblich – in der Finanzwelt ist dieses Verfahren jedoch besonders fragwürdig, weil alle Teilnehmer der Banken- und Börsenwelt in hohem Maße von den psychologischen Unwägbarkeiten des Augenblicks abhängig sind.
Grundsätzlich ist jede Finanztransaktion spekulativ. Das 1944 festgelegte Bretton Wood Abkommen, nach welchem der Dollar durch eine wertdefinierte Hinterlegung an Gold weltweit berechenbar gemacht werden sollte, hat sich nicht bewährt und wurde 1973 abgeschafft. Der Wert aller Edelmetalle ist spekulativ. Der wahre Wert einer Aktie ist nicht berechenbar, Geld bis hin zu in Sparbüchern angesparten Geldbeträgen hängen von der Bonität der Banken ab. Bei Anleihen sind nur solche Anleihen gesichert, für die der Staat (oder ein Bundesland) im Fall einer Krise einspringt (Staatsanleihen, Länderanleihen) – dies ist ein Sonderfall der Spekulation, bei der letztlich der Steuerzahler bürgt. Wenn eine Firma Anleihen mit höheren Zinsen vergibt, gelten solche Anleihen wegen des größeren Risikos als „echte“ Spekulation.
Weitaus „spekulativer“ sind Derivate von Aktien, Anleihen oder Rohstoffen (2), trotzdem könnte die Industrie ohne Absicherung der benötigten Rohstoffpreise oder der Absicherung von Währungen durch Optionen, nicht kalkulieren. Jeder Industriebetrieb muss die Kalkulation für seine Verkaufsprodukte so absichern, dass er die Preise seiner Produktpalette auf mindestens ein Jahr voraus für die Kunden sichern kann. Kein Warenkatalog darf Preise enthalten, die letztlich nicht garantiert sind (dabei ist es selbstverständlich, dass die für die Absicherung erforderlichen Kosten an den Kunden weitergegeben werden – aber auch der Kunde kann auf diese Weise seinen Kunden feste Preise anbieten.
Anm.: Die Spekulation im Finanzbereich ist keine Erfindung unserer Zeit, die ersten Optionen sind aus der Antike überliefert (z.B. bei Olivenernten). Dazu ein fiktives von mir erfundenes Gespräch zwischen einem Olivenbauern und einem Philosophen, siehe Fußnote (1)
In den Naturwissenschaften ist die Extrapolation in manchen Fällen durchaus erlaubt, nämlich immer dann, wenn es sich im Grunde nicht um den Blick in die Zukunft, sondern um bekannte Phänomene der Gegenwart handelt, die nach ähnlichen Reaktionsmustern wie der gerade zu untersuchende Prozess ablaufen – geht es allerdings um kosmologische Fragen, so sind Extrapolationen nur selten möglich, dafür sind viele Hypothesen ganz einfach zu spekulativ, so z.B. die „Stringtheorie“, die seit ca. 1960 und später seit den 1980er Jahren versucht, das Standardmodell der Elementarteilchen und die Gravitation zu verbinden. „Ob es sich bei der Stringtheorie überhaupt um eine wissenschaftliche Theorie handelt, die experimentelle Voraussagen machen kann, ist nicht geklärt“. (Zitat Wikipedia).
In der Mathematik ist es mir bei einem Abschlussexamen zur Chemie im Fach Mathematik passiert, dass ich eine komplizierte Funktion zunächst deswegen nicht analysieren konnte, weil die der Funktion entsprechende Kurve plötzlich „aufhörte“ und an einer anderen Stelle wieder begann. Erst als mich der Prüfer darauf aufmerksam machte, dass es schließlich auch „unstetige“ Funktionen gäbe, gewann ich wieder Boden unter den Füßen. Dies zeigte mir zum ersten Mal, dass es auch in der Mathematik Bereiche gibt, die spekulativ sind (nämlich der Zwischenraum der unstetigen Funktion).
Die Rechtswissenschaften beschäftigen sich grundsätzlich nur mit der Frage, ob etwas im Rahmen des vorgegeben Rechts ist. Der Spekulationsbegriff hat hier allenfalls Bedeutung, wenn entweder die Staatsanwaltschaft oder die Verteidigung das vorgegebene Recht nicht vollständig kennen, nicht richtig anwenden oder dass es Lücken im vorgegebenen Recht gibt.
Die Philosophie stellt fest, dass es Probleme gibt, die sich nicht durch Wissenschaften bearbeiten lassen. Begriffe wie „gut oder böse“ sind ebenso wenig wissenschaftlich fassbar, wie die Frage nach dem Sinn des Lebens. Es ist auch nicht wissenschaftlich erklärbar, ob die individuell erlebte Wirklichkeit tatsächlich existiert. Das alles sind Spekulationen und es ist sogar Spekulation anzunehmen, den nächsten Tag zu erleben.
Resumée: Unser Leben besteht aus Spekulationen, die man vielfach auch als „Hoffnung“ bezeichnen könnte und dadurch ihren abwertenden Charakter verlieren - denn Begriffe wie Spekulation und Hoffnung liegen sehr nahe beieinander.
Wann fängt Spekulation an? In dem Augenblick, wenn man zu denken anfängt.
(27.1.2016 - dieser Beitrag wurde gegenüber einer früheren Version stark verändert)
1) Zum Thema der Optionen ein von mir erfundenes, fiktives Gespräch zwischen einem bekannten Philosophen und einem Olivenbauern, das vielleicht so ähnlich verlaufen sein mag:
Ein Olivenbauer beobachtet, dass sich seine Olivenbäume gut entwickeln und die Ernte daher reichlich und qualitativ gut sein wird. Der Bauer rechnet daher mit hohen Gewinnen. Ein Philosoph und Olivenkenner, der viel im Lande herumgekommen ist, spricht den Bauern an: Es stimmt, dass deine Olivenernte wahrscheinlich sehr gut ausfällt, ich habe aber beobachtet, dass auch andere Olivenbauern ähnlich gute Ernten erwarten. Du kannst also keineswegs sicher sein, dass du deine Ernte zu dem Preis verkaufen kannst, den du dir vorstellst und wie viel du überhaupt verkaufen kannst. Der Bauer kann darauf nur antworten: Du hast leider recht, möglicherweise werde ich gar nicht soviel verdienen. Der Philosoph macht dem Bauern daraufhin einen Vorschlag: Ich verpflichte mich, deine gesamte Ernte zu einem Preis abzukaufen, der vielleicht nicht deinen Vorstellungen entspricht, dir aber einen sicheren guten Gewinn verschafft. Der Preis, den ich dir biete muss natürlich etwas niedriger sein, denn ich trage ja das volle Risiko, wer weiß schon wie ich deine Ernte verkaufen kann. Man einigt sich auf einen Preis, der deutlich unter den Preisvorstellungen des Bauern liegt. Beide Parteien glauben, dass sie dadurch einen Vorteil haben. Der Bauer liegt auf der sichereren Seite, denn er weiß genau, wie viel ihm seine Ernte einbringt. Der Philosoph und Olivenkenner glaubt, dass er durch seinen günstigen Einkaufspreis die anderen Bauern unterbieten und daher seine Ware vollständig verkaufen würde. Natürlich müsste er die Oliven etwas teurer verkaufen, als er sie einkaufen konnte, sein Gewinn ist jedoch weniger gesichert, als der des Bauern – einzig seine Kenntnis des Geschäftes mit Oliven veranlassen ihn zu der mit dem Bauern getroffenen Vereinbarung.
(2) „Die Gehirne von Börsianern ticken anders“ (dieses Magazin)
http://www.igler-reflexe.at/wirtschaft-geld-werbung/die-gehirne-von-b%C3%B6rsianern-ticken-anders/