Nicht gefesselt und doch nicht frei – ein Essay über die Freiheit
Ich wollte mir einen freien Tag machen – nicht arbeiten, nicht schreiben, nicht lesen, nicht denken. Das Nichtdenken ist vermutlich der schwierigste Teil eines freien Tages, deshalb bereitete ich den nächsten Tag minutiös genau vor. Ich würde eine Wanderung machen, die ich bereits so oft unternommen hatte, dass ich nicht einmal mehr über die Wegstrecken würde nachdenken müssen.
Kaum hatte ich meinen freien Tag und die vortags geplante Wanderung begonnen, dachte ich mir: “bis hierhin ist eigentlich alles gut gegangen” – und schon war der Tag verloren. Ich verschob meinen
freien Tag daher auf den folgenden Tag und begann meine Wanderung von neuem. Diesmal schien alles zu gelingen. Ich freute mich über die schöne Landschaft – über die ich nicht nachzudenken brauchte –
kannte ich doch alle in Frage kommenden Bergspitzen auswendig. Kurz vor der Heimkehr stellte ich mir die Frage, warum ich mir diesen freien Tag überhaupt hatte nehmen wollen und beim Nachdenken
darüber merkte ich, dass auch dieser Tag zwar nicht ganz verloren, jedoch auch nicht im gewünschten Sinne ganz frei gewesen war.
Den nächsten Tag verbrachte ich damit, mir „keinen freien Tag“ vorzunehmen um über dieses Problem nachzudenken. Um es mir damit etwas leichter zu machen fing ich bei einigen vertrauenserweckenden
Philosophen an – z.B. Immanuel Kant – man muss ja nicht alles noch einmal überlegen.
Kant (1724-1804) unterscheidet zwei Kategorien von Freiheit:
die positive Freiheit als Frage zu… (etwas) und
die negative Freiheit von…(auch von Gedanken zum Beispiel?).
Bei Kant ist bekanntlich immer alles etwas kompliziert – zudem ist frau/man bei der negativen Freiheit ja nie frei von Gedanken – es sei denn, frau/man wäre tot – aber Kant hatte die gedankliche
Freiheit in seiner „negativen Freiheit von…“ – um ehrlich zu sein – auch nicht so explizit erwähnt – hätte er aber sollen, anstatt sich an anderer Stelle darüber Gedanken zu machen.
Nach Kant ist Freiheit nämlich nur durch Vernunft möglich – er hätte sich nach Meinung des Autors die „Kategorie der negativen Freiheit“ daher wohl ersparen können.
Weiter:
Da nach Kant nur der sich bewusst pflichtgemäß, also moralisch verhaltende Mensch frei ist, sind „freies Handeln“ und „moralisches Handeln“ bei Kant ebenso Synonyma wie der Freie Wille und der gute
Wille.
Auch hier irrte Kant vermutlich. Den freien Willen mit gutem Willen praktisch gleichzusetzen, passt nicht in unsere Zeit und hat wohl bisher noch nie in eine Zeit gepasst.
Etwas vorher John Locke (1632-1704), ganz im Sinne der Aufklärung:
In “Two Treatises of Government” (1690) erklärt Locke den Naturzustand für den „Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes seine Handlungen zu lenken und über seinen
Besitz und seine Person zu verfügen, wie es einem am besten scheint – ohne jemandes Erlaubnis einzuholen und ohne von dem Willen eines anderen abhängig zu sein.“
Wirklichkeitsnäher ist da schon John Stuart Mill (1806-1873)
In „On Liberty“ setzt der britische Philosoph und Nationalökonom die Grenze:
„dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumischen befugt ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck,
um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gesellschaft rechtmäßig ausüben darf: die Schädigung anderer zu verhüten.“
Das ist Liberalismus in konzentrierter Form – der Neoliberalismus hat diese Zeilen vermutlich überlesen!
An dieser Stelle brach ich das Nachdenken ab. Mit der festen Absicht, meinen nächsten „freien Tag“ wieder bei einer Wanderung zu genießen, dachte ich mir (völlig übereinstimmend mit John Stuart
Mill), dass ich damit ja niemand anderen schädigen würde – auch durch meine Gedanken nicht (selbst wenn sie nicht immer den hehren Vorstellungen Kants entsprechen) – denken darf frau/man ja: das
„Tuen“ ist/wäre das eigentliche Problem.
(2.11.2011)