Über Meerschweinchenexperten und Querdenker
Wie wird man zum Experten? Es gibt sicher mehrere Wege, eine solche Auszeichnung zu erlangen, dabei ist ein breitgefächertes Fachwissen nicht immer erforderlich. Wer es geschafft hat, in einer der zahllosen Talkrunden oder bei Rundfunkinterviews – aus meist aktuellem Anlass – eingeladen zu werden, kann sich seiner Expertenschaft oft für lange Zeit erfreuen, zumindest so lange, bis ein anderer Anlass andere Experten kürt. Ganz ohne Wissen wird man allerdings nicht zum Experten, die Frage ist, wie dieses Wissen erworben werden kann. Eine originelle, jedoch gar nicht so abwegige Methode, z.B. den Ruf eines Meerschweinchen-Experten zu erlangen, war diejenige des Dr. B. unter den medizinischen Kollegen der Pharmaforschung meiner Firma. Dr. B. war Veterinärmediziner, dem hinsichtlich seiner Kenntnisse über Meerschweinchen ein legendärer Ruf nachgesagt wurde. Das war zu einer Zeit, als Meerschweinchen noch häufig zu medizinischen Versuchzwecken benützt wurden (s. Anm.). Als die Meerschweinchen meiner Kinder Krankheitssymptome zeigten, die ein niedergelassener Tierarzt nicht befriedigend deuten oder gar behandeln konnte, konsultierte ich daher unverzüglich meinen Kollegen Dr. B. Seine einleitenden Worte bei meinem Besuch waren: „Sie werden es nicht glauben, Meerschweinchen kamen im Studium eines Veterinärberufes überhaupt nicht vor und es gibt auch keine Fachbücher darüber, mein Wissen beruht einzig auf dem Glauben vieler Mitarbeiter, ich müsse wegen meines täglichen Umganges mit Meerschweinchen darüber wesentlich mehr wissen, als irgendwelche Tierärzte. Ich habe mir also die armen und liebenswerten Tiere meiner Freunde und Kollegen angeschaut und nach eigener Intuition Diagnosen gestellt bzw. Behandlungen vorgeschlagen, die zum Teil wirksam waren. Da ich mir über die Erfolge meiner Behandlungsvorschläge regelmäßig berichten ließ, wuchs mein Wissen über Meerschweinchen und deren Krankheiten von Jahr zu Jahr und so bin ich zum Meerschweinchenexperten geworden, ein Begriff den es eigentlich gar nicht gibt“.
Anm.: Meerschweinchen sind dem Menschen ähnlicher als man denkt, deshalb wurden sie früher häufig zu Versuchszwecken verwendet. Heute kann man auf einen Großteil von Tierversuchen verzichten – ganz ohne solche Versuche geht es leider immer noch nicht und man wird auch in absehbarer Zeit nicht darauf verzichten können, weil nicht alle Tests mit externen Zelllinien durchführbar sind. Jeder Tierversuch muss angemeldet werden und die Art der verwendeten Tiere hat sich gewandelt. Das Verbot, Kosmetica, Zahnpasta und Hygieneartikel durch Tierversuche zu testen, führte andererseits dazu, dass die Anwendung dieser Stoffe heute zu mehr Nebenwirkungen führt als Arzneimittel (insbesondere Allergien). Auf jeden Fall haben Meerschweinchen „Gemüt“, was man nicht von allen Menschen sagen kann.
Das Expertentum von Dr. B. wäre deswegen ein nachahmenswertes Beispiel, weil die fachliche Erfahrung und Liebe für ein gewisses Objekt oder Interessensgebiet oft zu einer Expertise führen, die das bei Medienspektakeln und Talkshows oft beobachtete „Pseudoexpertentum“ bei weitem übertrifft.
Querdenker contra Experten
Neben den Experten, die meist eindimensional denken und Probleme deswegen auch nur aus einem bestimmten Blickwinkel sehen und zu lösen versuchen, gibt es die sogenannten „Querdenker“, die offenbar die Fähigkeit besitzen, jenseits üblicher Denkschemata Ideen zu produzieren, an die Spezialisten nicht immer denken. Der deutsche Begriff „Querdenker“ entspricht am ehesten der Denkschule des „Lateral Thinking“ (Edwards de Bono, Psychologe, geb. 1933). Der Unterschied, wie man an die Lösung eines bestimmten Problems herangehen kann, lässt sich am besten sinngemäß durch folgendes Beispiel erklären:
Zwei Arbeiter brauchen eine Stunde um ein Loch von 1 Meter Tiefe zu graben. Frage: Wie tief wäre das Loch, wenn 10 Arbeiter zur Verfügung stünden? Die Antwort 5 Meter wäre eine geläufige Antwort, entspräche in der Praxis jedoch einer sehr „eindimensionalen“ Denkweise, denn es werden u.a. folgende Dinge nicht berücksichtigt:
- kann man an der Grabungsstelle überhaupt 5 Meter tief graben?
- stößt man nicht vielleicht nach einem Meter auf eine Steinplatte?
- ist dass Loch so breit, dass 10 Arbeiter nebeneinander arbeiten können?
- sind alle Arbeiter gleich kräftig?
- je tiefer das Loch ist, desto anstrengender ist es, die aufgegrabene Erde herauszuwerfen und die Arbeiter ermüden deshalb schneller – sollte man nicht besser in mehreren Schichten arbeiten, um die Ermüdung zu vermeiden?
Man könnte noch viele solcher unbequemen Fragen konstruieren. Das wäre für die Lösung komplexerer Probleme oft von entscheidender Bedeutung. Man könnte letztlich sogar die Frage stellen: brauche ich überhaupt ein 10 Meter tiefes Loch und wenn, setze ich nicht lieber Maschinen als Arbeiter dafür ein?
Bewundert werden Querdenker, weil ihr innovatives Denken den Spezialisten beeindruckt. Ins Abseits gedrängt werden diese Andersdenkenden dann, weil sie die Grenzen des Spezialisten aufzeigen und in bestehende, bereits vorgeplante Entwicklungsprogramme mit neuen Ideen eingreifen wollen. Beides ist für die Industriementalität schwer zu ertragen. Querdenker gelten daher in der Industrie als unbequem, obwohl es kaum einen Forschungs- oder Entwicklungsleiter gibt, der nicht stolz darauf wäre, in seiner Abteilung solche Individuen zu haben, weil diese oft zu kreativen Problemlösungen kommen, an die niemand denkt. Der Querdenker entspricht etwas dem klassischen „advocatus diaboli“, der allzu einfache und schnellgefasste Entscheidungen durch seine unbequemen Gegenfragen auf den Prüfstand stellt und damit einen oft nützlichen Beitrag des Innehaltens vor der bereits beschlossenen und meist kostenreichen Realisation eines Projektes bewirken möchte. Die Spezialisten setzen sich in der Industrie und bei Behörden fast immer gegen Querdenker oder den advocatus diaboli erfolgreich zur Wehr. Ein Spezialist kann immer etwas vorweisen und sei es die 15. Blackbox, die in die 14. eingebaut werden kann, der Querdenker erschreckt seine Umgebung dadurch, dass er gelegentlich zu dem Schluss kommt, dass überhaupt nur zwei Blackboxen oder vielleicht gar keine notwendig wären.
Muss man an einer bestimmten Stelle überhaupt ein Loch bohren? – Manchmal nicht.
(2010)