Ich weiß nicht warum ich lesen kann - PISA
Es muss eine alte Familientradition in meiner Familie geben - alle meine Vorfahren konnten noch lesen. Dass solche Familientraditionen gar nicht so selten sind, stelle ich bei meinen Mitschülern fest, die alle des Lesens mächtig sind und sogar meine Kinder und die Kinder meiner Freunde können noch lesen – was also ist in den letzten Jahrzehnten mit den Jugendlichen passiert, dass sie in manchen Ländern, besonders in Österreich und Deutschland offenbar nicht mehr richtig lesen können.
Auffällig ist, dass Jugendliche früher ziemlich unabhängig vom Schultyp (Volkschule, Hauptschule oder Gymnasium) lesen konnten – vielleicht mit unterschiedlicher Leseeffizienz, jedoch mit genügenden Kenntnissen, um den Anforderungen des Lebens gerecht zu werden. Am Ende meiner Berufslaufbahn (1994) hatten neueingestellte Lehrlinge (pardon: Azubis nach deutscher Lesart) schon deutliche Leseschwächen, was vermutlich daran lag, dass in Deutschland etwa seit 1960 pausenlos Schulreformen stattfanden, die sich in den “nach 1968-iger Jahren” in jedem Bundesland unterschiedlich, auf grundlegende Schulinhalte – u.a. auf die Fähigkeiten des Lesens und Rechnens auswirkten. In Österreich, einem lange Zeit weitgehend reformresistenten Land wurde dann die „neue“ Mittelschule bzw. “neue” Hauptschule eingeführt, deren Anforderungen am Ende bei 14-jährigen völlig gleich sein sollen (warum zwei Schultypen(?) – nun es handelt sich ja vorerst noch immer um ein Experiment!). Warum können österreichische Schüler trotz der genannten Reformresistenz so schlecht lesen? Weil Österreich seine Reformen in der bescheidenen Manier der Österreicher nicht an die große Glocke gehängt hat und offenbar einen kontinuierlichen Reformprozess durchlief, der es möglich machte, das Nichtlesenkönnen, laut PISA, noch erfolgreicher als in Deutschland zu realisieren (und zu verheimlichen). Jetzt beginnen auch in Österreich „echte“, jedoch noch nicht immer sinnvolle und daher auch nicht endgültige Reformen, wobei nach Aussagen von Eltern, LehrerInnen und zuständigen Stellen der Bildungs/Unterrichtministerien diese neuen Mittel/Hauptschulen äußerst gefragt und erfolgversprechend seien – so als ob der Erfolg einer Reform (gerade im Bildungswesen) bereits zu Beginn einer Reform abgelesen werden könnte. Die Experimente in Deutschland haben gezeigt, dass Erfolge nicht einmal am Ende einer Reform erkennbar waren, was naturgemäß sofort zu neuen Reformen führte.
Auffällig war auch, dass es in der schulpädagogisch „schlimmen alten Zeit“ nach 1946 kaum Legastheniker (1) gab, obwohl der Begriff Legasthenie schon seit etwa 1900 bekannt war. Offenbar gab es so wenige Legastheniker, dass sie nicht auffielen – heute gibt es sie in großer Anzahl, etwa nach dem Muster der Medizin: „Je besser die diagnostischen Möglichkeiten, desto weniger Gesunde gibt es“.
Also – was ist schuld an unserer Misere?
Es gibt aus Sicht der Bildungsministerien keine wirklich Schuldigen – außer natürlich "das fehlende Geld", obwohl Österreich was den Aufwand für Bildung betrifft, eher in der Oberliga spielt! Das sollte frau/man doch endlich auch einmal zur Kenntnis nehmen!
Wenn näher nachgefragt wird: selbstverständlich sind die Eltern ein bisschen, die LehrerInnen ein kleines bisschen und die zuständigen Schulbehörden wirklich nur ein „ganz kleines bisschen“ (???) Schuld.
Wie wurde der Autor zur Leseratte?
Ich hatte aus mir heute (un)begreiflichen Gründen in der Volksschule bereits in den ersten zwei Jahren (eigentlich sogar im ersten Schuljahr) „lesen“ gelernt, meine Mutter fand jedoch, dass bei mir die Leselust ausblieb. Sie startete ein sehr erfolgreiches Experiment indem sie mir Karl May oder Tom Sawyer (Mark Twain) vorlas und an den spannendsten Stellen plötzlich abbrach – das war ärgerlich! Nach mehreren solchen ärgerlichen Begebenheiten begann ich (natürlich heimlich), die Bücher selbst in die Hand zu nehmen. Als Zehnjähriger hatte ich von den ca. 66 Karl May-Bänden 59 und sonst noch einiges andere gelesen. Das erste Leseheft zum kostenlosen Ausleihen von Büchern der Stadtbibliothek Innsbruck erhielt ich als Vierzehnjähriger (1950) und begann mit den spannenden Romanen von Hans Domnick, jedoch bereits 1951 (ich war 15) weitete sich die Lesevielfalt aus. Ich bin froh, dass meine „fast perfekte“ Dokumentationwut schon sehr früh begann und ich u.a. auch diese Bibliothekshefte aufgehoben hatte (1951 „Einstein und das Universum“, „“Der Maulkorb“ (Spoerl), Goethes Faust, aber sehr bald (zwischen 1952 und 1953) kamen André Gide, Sartre und auch sonst „Zersetzendes“ vor. Parallel dazu begann in der Mittelschule ab 1948 die Zwangsbeschäftigung mit der aus heutiger Sicht "überflüssigen" echten Weltliteratur hinzu (Die Buddenbrooks, die Nibelungendichtung, Minnelieder des Mittelalters, Goethe, Schiller bis hinauf zu Kafka und Trakl und …und…und …Rainer Maria Rilke).
Ab der 6. Mittelschul/Gymnasialklasse verpflichtete unser Deutschlehrer jeden Schüler („Innen“ gab es zu dieser Zeit in Bubenklassen allenfalls als Einzelexemplare), pro Monat zusätzlich einen großen Roman zu lesen, dessen Inhalte auf einer Seite zusammengefasst als Kurzexzerpte in der Klasse ausgetauscht werden mussten (Tolstoi, Dostojewski, Puschkin, große französische und englische Literatur – italienische Literatur wurde damals wegen der Abspaltung Südtirols von Österreich etwas vernachlässigt – obwohl es auch dort "bescheidene Vertreter" wie Petrarca, Boccaccio, Verga oder Pirandello gab). Wir erhielten dadurch einen kleinen Überblick über das, was unseren Kindern und erst recht unseren Enkeln vorenthalten bleibt bzw. bleiben muss – was kann ein/e quasi erwachsene/r SchülerIn mit Leseschwäche schon mit Kafka oder Trakl anfangen - da können am ehesten Computergames erfasst werden. Schon die von damaligen deutschen Lateinlehrern als gar nicht so dumm bezeichneten Obelix und Asterics Comics, waren kein „Weg in die richtige Richtung“, wie man sich heute häufig ausdrückt, sondern ein Weg in eine absolut falsche Richtung.
Und wie kommt es, dass österreichische Schüler auch in den Naturwissenschaften so schlecht sind?
1). Es könnte ja sein, dass frau/man zum Lesen naturwissenschaftlicher Lehrbücher auch Lesekenntnisse braucht, die nach PISA in Österreich eben sehr schlecht sind (eine einfache Hypothese des Autors, nach der sich dieses Problem vielleicht nach Reformfortschritten bezüglich der Lesekompetenz von allein lösen würde).
2). Solche einfachen Hypothesen sind oft nicht zutreffend, es könnte also auch andere Gründe geben über die in anderen Beiträgen bereits berichtet wurde.
Zusammenfassend lässt sich feststellen:
1. Frau Beatrix Karl (ehemalige österreichische Bundesministerin für Wissenschaft und Forschung) hatte mit ihrer Kernaussage recht, dass Lesen in der Volksschule gelernt werden müsse – also sollte dies nach Meinung des Autors zumindest „versucht“ werden – sozusagen als gefährliches „Wetten-dass-Experiment“.
2. Frau Claudia Schmied (ebenfalls ehemalige österreichische Bundesministerin für Unterricht) hatte auch etwas recht – aber nur etwas!
Den sozialen Hintergrund anzuführen ist unsinnig, weil in Österreich Schulpflicht besteht und gleichgültig nach sozialer Herkunft, alle die Volksschule besuchen müssen (in welcher, nicht nur nach Frau Beatrix Karl, Lesen gelernt werden muss) – Frau Claudia Schmied hatte wie gesagt, in manchem recht jedoch meist dann nicht, wenn soziale Probleme nur nach sozialistischen Ideologien gelöst werden sollen. Die Schulen Baden-Württembergs und Bayerns waren trotz mangelnder sozialistischer Ideologie nicht so schlecht wie andere Schulen des deutschen Bundesdurchschnitts – trotz des Versuches, linksorientiertes pädagogisches Gedankengut ab ca. 1975 in diese Bundesländer in das Schulwesen einzuschmuggeln.
Bildung wird nicht – wie Frau Schmied meinte, ererbt, es sei denn die Erbgesetze hätten sich seit meiner Schulzeit deutlich geändert. In meinen Volksschul- und Mittelschuljahren gab es mit wenigen Ausnahmen nur SchülerInnen von Eltern niederer sozialer Klassen (kleine Angestellte, Arbeiter, Post- und Bahnangestellte etc.).
Gesichert ist, dass Computerspiele, Smartphones (mit ihren Wischtechniken des "Lesens") und zu viel Fernsehen den Leistungswillen der Schüler eindämmen, wie sich auch die heute häufigere berufsbedingte Abwesenheit beider Elternteile oder die gestiegene Zahl alleinerziehender Mütter negativ auswirken. Dieses Problem lässt sich wohl tatsächlich nur durch Ganztagsschulen (2), unabhängig vom Schultyp, beheben – und ein ganz kleines bisschen mehr Autorität bzw. Disziplin - wie immer man es nennen will - wäre gleichfalls wünschenswert. Wo steht geschrieben, dass Schule nur(!) Spaß machen soll und alles löse sich dann von selbst? Auch im Berufsleben ist in unserer Spaßgesellschaft nicht alles wirklich „spaßig“ – gut, wenn frau/man dies bereits in der Schule gelernt hat.
Die derzeitige österreichische Bundesministerin für Bildung Sonja Hammerschmid verfolgt noch nicht ganz ausgereifte Ideen mit neuen Kernthemen: verstärkte Schulautonomie und die Bildung von Schulclustern. Die Schulautonomie wird zu einer unüberschaubaren Vielfalt verschiedener Schultypen führen (3) und der Zusammenschluss von bis zu acht Schulen unter einem einzigen Direktor wird die Zufriedenheit des Lehrpersonals in den einzelnen Schulen nicht gerade erhöhen, umso mehr als hier ein nicht ganz ausgereiftes Sparkonzept kaum die Qualität des Unterrichtes erhöht.
Resumée: Eines ist sicher – wir werden in zahllosen TV-Talkrunden immer genauer erfahren, warum z.B. ich und meine Generation möglicherweise lesen gelernt haben könnte, obwohl wir nicht in Südkorea als PISA-Testsiegerasse aufgewachsen sind.
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(1) Legastheniker haben Probleme mit der Umsetzung der gesprochenen zur geschriebenen Sprache und umgekehrt. Als Ursache werden eine genetische Disposition, Probleme bei der auditiven und visuellen Wahrnehmungsverarbeitung, der Verarbeitung der Sprache und vor allem bei der phonologischen Bewusstheit angenommen. Die Störung tritt isoliert und erwartungswidrig auf.
(2) Die Ganztagsschule sollte nicht verpflichtend sein – sie sollte an jeder Schule für SchülerInnen angeboten werden, wenn die familiären Verhältnisse dies erforderlich machen. In einem Ganztagsschulkonzept müsste daher in erster Linie eine Überwachung der Hausaufgaben am Nachmittag bzw. die Förderung in Einzelfächern von erfahrenen LehrerInnen gewährleistet sein – wieder nur, wenn dies im Einzelfall erforderlich ist, damit nicht immer höhere Summen für Nachhilfeunterricht aufgewendet werden müssen.
(3) Es hatte durchaus Vorteile, dass gerade in einem so kleinen Land wie Österreich zur Schulzeit des Autors, die Schulsysteme der einzelnen Bundesländer so angeglichen waren, dass ein Wechsel der SchülerInnen (z.B. von Wien nach Innsbruck) ohne Umstellung möglich war.
(6.4.2017, Überarbeitung einer Version aus 2012)