Die Authentizität des Augenblicks: Rom
In diesem Beitrag geht es ausschließlich um die Authentizität von Augenblicken – „zeittypisch“ ist das Geschilderte allenfalls am Rande, wenn man die begleitenden Hintergründe dieser Zeit kennt - oder, um diese kennen zu lernen. Der nachfolgende Beitrag ist Teil einer in einem Vorgängermagazin vor Jahren veröffentlichten Reihe über Weltstädte – Rom unterscheidet sich in mehrfacher Sicht von anderen Weltstädten und hat bei mir bedeutsame persönliche Erinnerungen hinterlassen.
Zum ersten Mal besuchte ich Rom bei meiner Maturareise 1954. Diese Reise war insofern ungewöhnlich, als wir sie Ende März zu Ostern – also noch vor der Matura machten und von der Schule nicht gebilligt war (schriftliche Warnungen an die Eltern kamen ins Haus und eine Begleitung durch Professoren wurde strikt verboten). Wir unternahmen die Reise trotzdem, weil einige Mitschüler bereits ein Arbeitsverhältnis für die Zeit unmittelbar nach der Matura unterschrieben hatten und waren uns daher bewusst, dass bei dieser Reise nichts passieren durfte. Der einzige „maturagefährdete“ Mitschüler blieb vorsichtshalber zuhause (er war der Einzige, der die Matura dann nicht auf Anhieb bestand) ansonsten wurden wir von den Professoren und dem Direktorium für unseren Mut später gelobt – die damaligen Schulen waren besser als ihr Ruf heute dargestellt wird! Die Reise führte außer nach Rom auch nach Neapel und Capri – aber das wäre ein anderes Kapitel – Thema ist: Rom.
Wir kamen abends bei Dunkelheit an, es schneite leicht und wir übernachteten in einer Klosterschule. Bevor ich jedoch ans „Übernachten“ dachte, wollte ich zusammen mit zwei Mitschülern einen ersten kurzen Eindruck von Rom gewinnen und so machten wir uns sofort auf den Weg und begingen gleich drei Fehler: 1) wir hatten uns weder Straße, noch Namen der Klosterschule gemerkt, 2) wir hatten keinen Stadtplan, 3) mein Cousin, der einzige unserer Gruppe der als Halbitaliener italienisch konnte, war nicht dabei – man war kurz vor der Matura zwar schon 18 Jahre alt, aber offenbar zum Überleben noch nicht reif genug. Wir gingen zu Fuß weiter und weiter, spürten vor Aufregung die Kälte nicht und standen plötzlich vor dem Petersdom. Der Dom, der Obelisk aus dem Circus des Caligula und Nero, die beiden Brunnen und die Kolonnaden waren durch Licht angestrahlt, der Anblick war so überwätligend, dass wir völlig vergessen hatten, aus welcher Richtung wir gekommen waren. Vorsichtshalber versuchten wir es mit zuerst der einen, dann mit der anderen Richtung, irgendwie würden wir schon zurückfinden – aber wir fanden nicht zurück und so blieb nichts anderes übrig, als zwei Carabinieri mit Schäferhund auf unser Problem aufmerksam zu machen, was ohne Italienischkenntnisse zunächst fast unmöglich schien – so unmöglich, dass man uns auf die Polizeiwache brachte, wo sich eine angeregte Diskussion zwischen mehreren dort versammelten Carabinieri und einem Commandante vor einem riesigen Stadtplan Roms entspann. Ihre Versuche, uns in die Diskussion einzubeziehen scheiterten immer wieder an unseren mangelnden Italienischkenntnissen, bis sie offenbar unter sich eine einvernehmliche Lösung gefunden hatten. Man bedeutete uns, ihnen zu folgen und wir wunderten uns, als wir etwa 25 Minuten später vor unserer Übernachtungsstätte standen. Wunder geschehen also nicht nur in den einfältigen Köpfen ländlicher Bewohner, sondern selbst (oder vielleicht besonders) im Heiligen Rom.
Alles übrige war selbstverständlich – da wir uns auf die Reise nicht vorbereitet hatten und es auch keine Begleitperson gab, die uns über irgend etwas in Rom hätte aufklären können, besuchten wir das, was wir vom Lateinunterricht her kannten: das Forum Romanum, das Colosseum, die Engelsburg und die Appia Antica. Was wir nicht kannten war das mittelalterliche Rom – es kam im Unterricht nicht vor. Mein Cousin hatte jedoch einen alten Verwandten, einen „Professore“ der uns als ehemaliger Museumskustos von Rom mit seinen weit über 70 Jahren vier Stunden mitten in der Nacht durch dieses mittelalterliche Rom führte, was uns in unserer unsportlichen Jugend (es gab noch keine Mountain Bykes und Energy Drinks) mehr anstrengte als den Professore.
Ein Sprung ins Jahr 1957: zweite Reise nach Rom (diesmal nur mit meinem Cousin). Der Petersdom, das Forum Romanum, das Colosseum etc. hatten sich nicht verändert, wir fügten einige Sehenswürdigkeiten hinzu. Die Preise eines Éspresso oder Campari-Soda waren inzwischen gestiegen. Im ehrwürdigen Café Greco zeigte man uns dank der Italienischkenntnisse meines Cousins die Eintragungen von Goethe und Wagner im sorgsam gehüteten Gästebuch – die Spiegel im Café Greco waren so alt, dass vielleicht schon Goethe, sicherlich Richard Wagner ihr Ebenbild darin betrachtet hatten.
Ein Sprung ins Jahr 1962: (diesmal mit zwei Studienkollegen). Frisch angekommen und diesmal ohne Kenntnis wo wir übernachten würden, aßen wir in einer uns nicht bekannten Straße in einem unbekannten Ristorante aufregend gut, sodass wir am nächsten Tag das gleiche Erlebnis wiederholen wollten (Straße, Name des Ristorante und Stadtteil hatten wir uns wieder nicht gemerkt – alle Fehler müssen mindestens zweimal gemacht werden). Inzwischen konnten wir zwar italienisch, aber was nützt das schon, wenn man einen Passanten nach einem unbekannten Ristorante, in einer unbekannten Straße und einem unbekannten Stadtteil Roms fragt. Wir versuchten es gar nicht erst, waren jedoch durch unser Studium soweit fortgeschritten, eine banale wissenschaftliche Methode anzuwenden, die Wissenschaftler nur dann anwenden, wenn ihnen gar nichts mehr Vernünftiges einfällt und sie trotzdem den Ehrgeiz haben, etwas Gesuchtes zu finden. Wir fuhren mit dem Auto in immer enger werdenden Spiralen mehrmals um Rom herum und standen irgendwann plötzlich wieder vor dem Lokal des Vorabends, traten ein und aßen deutlich mehr Menugänge als am Vortag. Wir überzeugten uns am nächsten Tag, dass es den Petersdom, das Colosseum und das Forum Romanum noch gab. Zuletzt besuchten wir die Sternwarte des Vatikans, die von einem Jesuiten geleitet wurde, der in Innsbruck zusätzlich das Fach Chemie studiert hatte und den treffenden Namen Pater Salpeter führte. Es gefiel ihm sichtlich gut in Rom – auf die Frage, ob er uns einen besonders guten Wein empfehlen könne, schwärmte er vom „Lacrima Christi“ – er war noch nicht so lange in Rom, dass er die superbe kulinarische Erfahrung mancher Ordensbrüder besaß. Dann verließen wir Rom (es war dort ja alles in Ordnung) und erholten uns am Strand 100 Km südlich von Ostia.
Ein weiteres Mal in Rom: Wir überzeugten uns, dass es den Petersdom, das Colosseum und das Forum Romanum noch gab, der Éspresso und der Campari-Soda waren noch teurer. Die Unordnung in Rom hatte sich ausgeweitet, die Gästebücher mit den Eintragungen von Goethe und Wagner wurden uns trotz unserer inzwischen angeeigneten Italienischkenntnisse nicht mehr gezeigt, das Dolce Vita gab es inzwischen nicht nur im Film, sondern auch in einigen Lokalen Roms. Man erkannte dies u.a. daran, dass ein elegant aussehender Italiener in einem teuren Straßenrestaurant, eine volle Flasche Wein vor den Augen des Cameriere nach dem ersten Schluck in den Straßengraben ausgoss, weil der Wein ihm offenbar nicht mundete.
Bei allen diesen Romreisen bestimmten gutgekleidete Herren, weniger gut gekleidete Burschen unseres Alters und sehr hübsche Mädchen ohne Helm bzw. Sportkleidung auf eleganten Vespas das Straßenbild Roms – vielleicht das einzige, das man als „zeittypisch“ bezeichnen konnte. Die beiden Bände „Römische Erzählungen“ von Alberto Moravia, 1954 und 1959 erschienen, trugen später jedoch dazu bei, das „Zeittypische“ dieser Stadt noch deutlicher zu machen.
Was hat das alles mit der Frage nach der Authentizität des Augenblicks zu tun? In Rom ändert sich fast nichts, nicht an der Kurie, nichts am Petersdom, Colosseum, Forum Romanum, an der wachsenden Unordnung der Stadt, am überbordenden Straßenverkehr und nichts am stetigen Preisauftrieb von Éspresso und Campari-Soda (die Zahl der Touristen wächst ebenfalls).
Alles in allem kann man zu jeder Zeit nach Rom kommen und alles was man dort sieht ist im Gegensatz zu Paris zu jeder Zeit „authentisch“. Nicht umsonst spricht man von der „Ewigen Stadt“ und Ewigkeit schließt Augenblicke aus.
(8.7.2015, redigierte Erstfassung v. 2008)