Wladiwostok

 
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Ich stieg in den erstbesten Schnellzug in Wien ein – nur so – nachdem ich nicht wusste, wohin ich fahren wollte und infolgedessen auch gar keine Fahrkarte gekauft hatte, war es gleichgültig wohin der Zug fuhr. Bald würde sowieso der Fahrscheinkontrolleur kommen und mir sagen, wohin ich meine Fahrkarte hätte kaufen sollen und ich würde ihm antworten, dass ich dies nicht gewusst habe und dass genau dies der Grund sei, warum ich jetzt keine Fahrkarte besäße. Ich stellte mir sein zunächst verwundertes Gesicht vor, das sich langsam in ein amtshandlungsfähiges Gesicht wandelte, wenn er mich auffordern würde, zumindest bis zur nächsten Station eine Fahrkarte mit einer Zusatzgeldbuße zu kaufen und dann den Zug bei der nächsten Station zu verlassen. Fast begann ich mich aus reiner Langweile, auf das Erscheinen des Kontrolleurs und sein sicherlich erstauntes Verhalten zu freuen, aber es kam weder ein Kontrolleur, noch ein Zugführer, noch irgend eine zu Amtshandlungen autorisierte Person. Wahrscheinlich hatten sie meinen Wagen längst kontrolliert und saßen jetzt im sogenannten Bahnpersonalabteil bei einer deftigen Bahnpersonaljause. Bei diesem Gedanken erinnerte mich mein Magen, dass auch ich schon lange nichts mehr gegessen hatte und ich begab mich daher in den Speisewagen. Ich setzte mich neben Herrn Novacek, weil kein anderer Platz frei war und Herr Novacek nichts dagegen einzuwenden hatte. Ich muss hinzufügen, dass ich Herrn Novacek vorher nicht kannte, jetzt ließ er jedoch keine Gelegenheit aus, mir mitzuteilen, dass er jener berühmte Novacek sei, der vor 14 Jahren das entscheidende Tor gegen Wacker-Zwietracht geschossen habe, das sein Leben vollkommen verändert hatte. Als ich sein Leben nach zwei ausführlichen Schilderungen nun vollständig kannte und selbst eine kleine Malzeit zu mir genommen hatte, begab ich mich wieder in mein Zugabteil, wo inzwischen zwei neue Passagiere Platz genommen hatten. Sie sprachen russisch jedoch auch recht gut deutsch, so dass wir bald ins Gespräch kamen. Ihr Reiseziel war Wladiwostok und sie fragten mich, ob ich auch nach Wladiwostok wolle. Amüsiert antwortete ich ihnen „vielleicht“ – ich hatte ja, wie eingangs erwähnt, kein besonderes Fahrziel. Zwar wusste ich, dass Wladiwostok das Ende der Transsibirischen Eisenbahn bedeutete und von Moskau mehr als 8200 Km weit entfernt ist – andererseits hatte ich ja nichts besonderes vor – warum nicht Wladiwostok? Vorläufig waren wir allerdings erst in Krems und ich fragte mich, ob man die Fahrt nach Moskau nicht besser von einem anderen Zug aus hätte starten sollen, aber in Anbetracht der danach folgenden Sechs-oder Siebentagefahrt nach Wladiwostok spielte dies wohl keine Rolle. Inzwischen hatten auch die Fahrkartenkontrolleure offenbar ihre Jause beendet und einer von ihnen betrat unser Abteil um seine Kontrollfunktion wieder aufzunehmen. Der Kontrolleur beachtete mich gar nicht, vielleicht weil er mich mit Herrn Novacek zusammen gesehen hatte, dafür beschäftigte er sich um so gründlicher mit meinen Mitreisenden und meinte streng, die Fahrausweise nach Wladiwostok wären zwar korrekt gebucht, es fehle jedoch die Strecke von Wien nach Krems, weshalb er sie zwang auszusteigen, um das Versäumte nachzuholen. Ich stieg vorsichtshalber ebenfalls aus – den ich hatte ja nicht einmal nach Wladiwostok gebucht!

 

Am Bahnsteig verlor ich meine beiden Mitreisenden aus den Augen - auch deswegen weil Herr Novacek ebenfalls in Krems ausstieg und mich auf ein Glas Weißwein in der Bahnhofsrestauration einlud. Dort erzählte er mir sein Leben ein drittes Mal und ich begann dabei, mein Interesse an Wladiwostok langsam zu verlieren – nicht weil das Leben von Herrn Novacek so interessant war, sondern weil der Wein mich von meinem Vorhaben immer weiter entfernte. Nach dem vierten Glas Veltliner gab ich mein ursprünglich sowieso nicht geplantes Vorhaben völlig auf und wurde in diesem Entschluss von Herrn Novacek bestärkt, der meinte, dass es dort keine so guten Grüne Veltliner Weine gäbe wie in Krems, er kenne sich da aus. Sollten doch die beiden Russen alleine nach Wladiwostok fahren und sich dort mit Wodka voll laufen lassen. Für mich war das Wladiwostok-Abenteuer, nicht zuletzt wegen des Herrn Novacek, endgültig abgehakt. Ich fuhr nach Wien zurück, wieder ohne Fahrschein – weil ich nicht wusste, ob ich überhaupt nach Wien reisen wollte – wer weiß, wo ich ankommen würde. Während ich auf den Fahrscheinkontrolleur wartete schrieb ich nur noch schnell kleine Reisebemerkungen in mein Reisetagebuch:

 

Krems-Wladiwostok, Oktober 2014

Wladiwostok hat heute 592034 Einwohner, die ich nun alle nicht kennen lernen werde. Noch 1990 gab es dort angeblich 650000 Einwohner – ich weiß nicht, was den fehlenden Personen passiert ist, aber es war wohl ein guter Entschluss, nicht nach Wladiwostok zu reisen. Krems hat nur ca. 24000 Einwohner, aber die Bevölkerungsentwicklung strebt, wenn auch nur zögerlich, nach oben. Herrn Novacek würde ich sicher irgendwann wiedertreffen – die ganze Welt ist voller Novaceks!

 

(31.10.2014)

 

 

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