Wenn das Leben entgleitet

 


Giebelinschrift an einem Haus in Weimar - © Foto: Margit Speiser, 2013

 

 

 

Josef bildete sich ein, das Leben zu kennen und doch geschah es gelegentlich, dass es ihm entglitt. Er meinte dabei nicht Alkoholexzesse – solche hatte es in seiner Jugendzeit insgesamt nur drei gegeben, schlimmer waren seine im Alter öfter auftretenden Gedanken darüber, warum er das alles tat, was er „tat“. Warum hatte er studiert? – doch nicht, um in der Industrie das abzuleisten, was ihm von oben aufgetragen wurde und auch nicht, um das verdiente Geld gleich wieder auszugeben. Und warum wandte er sich seinen zahlreichen Hobbies zu? Sicher nicht um die Zeit totzuschlagen - oder doch? Offenbar kannte er 'das Leben' doch nicht so gut und schon gar nicht sein eigenes - er würde darüber nachdenken müssen. Während er so nachdachte bemerkte er nicht, dass ihm infolge dieses Nachdenkprozesses das Leben schon wieder langsam zu entgleiten begann, weil er gedankliche Sphären betrat, die vor ihm schon so viele berühmte Philosophen betreten hatten, mit denen er sich einerseits nicht messen konnte, die andererseits jedoch das Problem des Lebens offenkundig gleichfalls nicht gelöst hatten – sonst hätte es nicht immer wieder Philosophen gegeben, die sich mit dieser Frage herumgeschlagen hatten.

 

Josef brauchte lange um festzustellen, dass man das Problem auch hätte delegieren können, wie eine Giebelinschrift von Jules Renard(1) an einem Haus in Weimar (siehe Eingangsfoto) zeigt, wobei leider nicht gesichert ist, ob Renards Bitte auch beantwortet wurde.

 

(2.8.2013)

 

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(1)  Jules Renard (1864-1910), Schriftsteller und Aphoristiker, bekannt für seine oft grotesk-melancholischen Kurzformen. Der Spruch am Giebel des Weimarer Hauses stammt aus „Ideen“, Seite 181

 

 

 


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