Schlechte Träume

 


Der Wahlredner - © Alfred Rhomberg

 

 

Josef wachte wieder einmal – wie schon seit Tagen – schweißgebadet auf. Es war immer der gleiche Traum: er träumte, er sei Politiker und habe vor den Wahlen der Bevölkerung vieles versprochen, was er jetzt nach seinem Wahlsieg in die Tat umsetzen müsse, jedoch nicht konnte. Nachdem dies nun schon ziemlich lange so ging und er nach dem Aufwachen stets von dem schlechten Gewissen geplagt war, am Tage wenigstens einen Teil seiner Versprechungen umsetzen zu wollen, wurden auch seine Tage immer qualvoller. Josef erinnerte sich an die wenigen Semester seines Psychologiestudiums, in welchen die Thematik, ob man überhaupt in der Lage sei, zwischen Wach- und Traumzustand unterscheiden zu können, dahingehend beantwortet wurde, dass dies grundsätzlich nicht möglich sei. Er begann also darüber nachzu denken, ob sein Traum nicht in Wahrheit „Wirklichkeit“ und er tatsächlich Politiker sei. Einiges sprach dagegen: Politiker haben seines Wissens kein schlechtes Gewissen, wenn sie ihre Wahlversprechungen nicht einhalten können – ganz sicher war er sich damit natürlich nicht, aber wenn er tatsächlich „Politiker“ (und nicht nur im Traum) war, könnte er diesen Zustand ja vielleicht ändern. Zunächst drängte sich Josef jedoch die Frage auf, was „Gewissen“ überhaupt sei und kam zu der Ansicht, dass dieses eine Instanz des Gehirns ist, die aus moralischen, ethischen oder intuitiven Gründen ohne sein Zutun bestimmt, etwas durchzuführen oder zu unterlassen. Ganz befriedigte ihn seine Ansicht nicht, denn sie ließ bezüglich PolitikerInnen zwei Möglichkeiten offen: entweder sie haben ein Gewissen und handeln so, wie sie handeln, weil sie erkannt haben, dass vieles zu unterlassen sei – oder sie haben tatsächlich kein Gewissen und handeln deswegen so wie sie handeln.

 

Das Beruhigende an einem Gewissen ist, dass man sich - für den Fall, etwas Positives (moralisch oder ethisch gesehen) geleistet zu haben, anschließend wohlfühlt. Es könnte aber auch sein, dass man sich auch ohne Gewissen einfach nur deswegen wohlfühlt, weil man – gleichgültig wie man handelt – durch ein gutes Jahresgehalt und entsprechende Pensionsansprüche ebenfalls ganz besonders wohl fühlte. Wie stand es damit bei Josef?

 

Sein Monatsgehalt war eher klein, ja sogar dürftig. Er hatte auch keine Gelder in die Schweiz oder nach Luxemburg transferiert – das sprach nicht dafür, Politiker zu sein. Außerdem fehlten ihm manchmal die Worte, um elegant etwas ins Positive zu verdrehen, wenn eigentlich eine nüchterne Sprache angebracht gewesen wäre, um die Wahrheit zu sagen – denn er konnte leider nicht lügen.

 

All dies zusammengezählt konnte es sich bei seinen schlechten Träumen wohl nicht um einen Wachzustand handeln. Mit Ausnahme der hohen Gehälter und sonstigen Annehmlichkeiten des psychologisch gesehen immerhin möglichen Wachzustandes, war er jetzt um seine schlechten Träume fast froh – besonders weil er wegen seiner Überlegungen vor hatte, tagsüber ein hoffentlich von der Wissenschaft viel beachtetes Buch mit dem Titel „Differentialanalyse und praktische analytische Möglichkeiten zur Unterscheidung von Traum- und Wachzustand“ zu schreiben.

 

(19.5.2014)

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