Burnout-Syndrom, Stress, "Entschleunigung“ – eine kritische Betrachtung

 

 

Burnout - (c) Alfred Rhomberg

 

 

Immer häufiger wird eine „Entschleunigung“ unserer modernen Lebensweise gefordert, der Büchermarkt quillt mit Büchern zu ganz unterschiedlichen Aspekten dieser Thematik über(1).

Es ist auffällig, dass das Burnout-Syndrom erst seit den 70er-Jahren in aller Munde ist. Der 1960 erschienene Roman „A Burn-Out Case” von Graham Greene(2) hat viel dazu beigetragen, den Begriff populär zu machen. Der Stressbegriff ist noch älter, er wurde von dem Mediziner Hans Seyle 1936 aus der Werkstoffkunde übernommen, wobei „Stress“ als Material-Übermüdungserscheinung auf Druck und Zug verstanden wird. Medizinisch gesehen ist nicht jeder Stress schädlich – er ist sogar lebensnotwendig. Engagiert frau/man sich für angenehme, interessante Arbeiten, wird auch eine extreme Beschäftigung damit nicht als Stress im negativen Sinn empfunden. Die positive Form von Stress wird als Eustress bezeichnet.

 

Wurde vor 50 Jahren weniger gearbeitet?

 

Diese Frage lässt sich ebenso wenig eindeutig beantworten wie die Frage, ob heute zu viel gearbeitet wird. Wenn ich mich an frühere Jahre erinnere, hatte ich im Chemiestudium sicher einen 14-Stundentag, das gleiche kann ich von meinem späteren Berufsleben berichten. Ich hatte diese Zeit nie als „Stress“ bezeichnet, auch wenn die berufliche Belastung in drei parallel laufenden Stabs- und Liniefunktionen oft anstrengend war. Auch meine Studienkollegen oder meine späteren Berufskollegen empfanden diese Belastung nicht als „schädlich“. Warum?  1). Wir kannten es nicht anders und 2). die Arbeit hatte uns Freude gemacht, weil sie uns interessierte bzw. weil wir, moderner ausgedrückt, motiviert waren.

Allerdings dürfen unterschiedliche Berufe nicht miteinander verglichen werden. Der Fabrikarbeiter fühlte „Stress“ vermutlich seit Einführung des Fließbandes, das nicht erst seit Henry Ford für die Autoproduktion, sondern aus viel frühen Zeiten bekannt ist (zB. Transportbänder in Schlachthöfen, Cincinati um 1870) sicher nicht „angenehm“. Es gibt auch für manche Fertigungen Berichte aus dem späten 15. Jahrhundert, als in Venedig Schiffe teils fließbandartig hergestellt wurden – darüber, wie sich die Arbeiter dabei fühlten, wird nicht berichtet.

 

Eine Verkäuferin in einem Lebensmittelladen um 1950 hatte bei einem 9-Stundentag sicher weniger Stress als eine moderne Kassiererin im Supermarkt mit einer Teilzeitbeschäftigung von nur 6 Stunden am Tag. Landärzte, die auch heute oft noch Hausbesuche machen, arbeiten viel, aber weniger „gestresst“, als viele Klinikärzte und Ärztinnen, die Operationen fast fließbandartig durchführen müssen. Der Unterschied liegt in der Motivation. Der Landarzt kennt seine Patienten und dessen Lebensumstände, für Klinikärzte wird ein Mensch auf eine Code Nummer wie „Blindarm“, Gallenblasenresektion oder Darmkrebs reduziert, was für Ärztinnen und Ärzte, aber auch für das Klinikpersonal, wenig motivierend ist.

Es wäre also das Ziel aller ArbeitgeberInnen, ihre MitarbeiterInnen für ihre Aufgaben so zu begeistern bzw. sie zu „motivieren“, dass Arbeit nicht als schädlicher Stress empfunden wird. Gleichzeitig muss die Frage gestellt werden, ob wir heute möglicherweise zu stressanfällig im Sinne von „wehleidig“ geworden sind (ich kenne aus meiner Berufszeit ab etwa 1990 solche Fälle). Wenn heute schon in der Schule ständig von „Stress“ gesprochen wird, kann als Ursache angemerkt werden, dass die moderne Schulpädagogik vielleicht doch nicht so viel besser ist, als die deutlich autoritäreren Unterrichtformen der Nachkriegsjahre. Wer als SchülerIn ständig von Stress spricht, ist bereits einer gewissen Wehleidigkeit verfallen, die es früher so nicht gab.

 

Was hat sich in der Arbeitwelt in den letzten 50 Jahren verändert?

 

Die Arbeitsabläufe waren früher übersichtlicher und die menschlichen Kontakte intensiver. Die MitarbeiterInnen erfuhren zudem die Anerkennung als Individuum und wurden nicht als jederzeit austauschbarer „Produktionsfaktor“ behandelt. Bei den meisten Computerarbeitsplätzen und Produktionsautomaten ist es heute an sich gleichgültig, wer vor dem Bildschirm oder den Geräteschalttafeln sitzt.

 

Die „Beschleunigung“ der Arbeitswelt ist nicht zwingend notwendig

 

Es gab auch früher immer wieder Arbeiten die dringend erledigt werden mussten bei denen also kein Aufschub möglich war, heute scheint es nur dringende Arbeiten zu geben. Bei genauerer Analyse stellt sich heraus, dass dies so nicht stimmt. Wegen der Unübersichtlichkeit komplexer Arbeitsvorgänge glauben viele MitarbeiterInnen, dass grundsätzlich alles gleich wichtig ist und dies wird ihnen auch von den vorgesetzten AbteilungsleiterInnen so suggeriert. Die MitarbeiterInnen gewöhnen sich dadurch den falschen Ehrgeiz an, alles sofort zu erledigen. Wenn das nicht gelingt und nicht anerkannt wird, ist es nur natürlich, sich zunehmend überfordert zu fühlen.

 

Anm.: Der Ordinarius während meiner Hochschul-Assistentenzeit überforderte seine Assistenten täglich mit einer Unzahl neuer Ideen. Ich hatte mir daher angewöhnt, vordringlich jenen Ideen nachzugehen, die ihn am nächsten Tag noch besonders interessierten und widmete meine Arbeit in erster Linie diesen Ideen. Aus diesem Grunde konnte ich meist sehr schnell mit für ihn positiven Antworten aufwarten (anders als meine Kollegen, die zuerst das verfolgten, was sie selbst interessierte). Daraus hatte ich mir im Berufsleben die strikte Einteilung in Vorgänge angewöhnt, die wirklich dringend, „nur etwas dringend“, weniger wichtig und ganz unwichtig waren.

 

Untaugliche und taugliche Methoden der Motivation

 

Am wenigsten motivierend sind hohle Phrasen, die immer häufiger in Mitarbeiterseminaren auf die im Kreise sitzenden „Opfer“ durch Motivationstrainer einprasseln. Ich habe in meiner 29-jährigen Berufszeit in einem Pharmakonzern an unzähligen Seminaren für Führungskräfte teilgenommen und stellte dabei fest, dass die Seminare in den ersten Jahren wesentlich besser waren, als gegen Ende meiner Berufszeit. Das lag wesentlich daran, dass in den ersten 15 Jahren externe, erfahrene (und ältere) Seminarleiter die Seminare leiteten. Mit dem Wachsen der Firma gab es firmeneigene junge SeminarleiterInnen, die in einem großen Ausbildungszentrum innerhalb der Firma immer weniger überzeugend wirkten. Die besten Seminare waren diejenigen, bei denen maximal 12 Führungskräfte aus unterschiedlichen Bereichen der Firma vier Tage in einem Hotel klausurartig „eingesperrt“ wurden und keinerlei telefonische Kontakte zu seinen/ihren Abteilungen oder zur Familie erlaubt waren.

 

Anm.: Heute würde dieses Verbot schon wegen der Erfindung des Handys nicht mehr möglich sein. Der besondere Vorteil dieser Seminare lag in der intensiven ganztägigen Seminarsarbeit und den abendlichen sogenannten „open end“ Kamingesprächen bei denen grundsätzlich über „alles“ mit dem Seminarleiter diskutiert wurde. An einem Abend jeden Seminars nahm dann stets auch ein Geschäftsführer an den Gesprächen teil, der bereitwillig auf alle gestellten Fragen antwortete. Ein zusätlicher Effekt dieser Seminare war, dass völlig unterschiedliche Bereiche, wie Forschung, Marketing und Rechtswesen im gemeinsamen Gespräch näher kamen. Später wurden oft die LeiterInnen einer ganzen Hauptabteilung gemeinsam trainiert.

 

Das Burnout-Syndrom

 

Das Burnout-Syndom ist (sofern es sich nicht um ein „Wehleidigkeits-Syndrom“ handelt) eine nicht wegzuleugnende Erkrankung, die zunehmend eher in unteren Hierarchieebenen oder bei der „Supermarktkassiererin“ (auch bei MitarbeiterInnen im Gastgewerbe) auftritt. Es tritt häufig dann auf, wenn MitarbeiterInnen fließbandartige Tätigkeiten durchführen müssen, deren Abläufe sie nicht beeinflussen können. Ist das Burnout-Syndrom einmal manifestiert, so ist der Weg in tiefe Depressionen und zu psychosomatischen Erkrankungen nicht weit. Gute TherapeutInnen sind gier die einzige Möglichkeit, aus der belastenden Situation herauszufinden. ArbeitgeberInnen wären daher dringend aufgefordert, das ihre zur Vermeidung solcher Fehl-Belastungen zu tun. Bei Arbeiten, die das nicht zulassen, ist entweder die Automatisation der Arbeitsvorgänge zu überlegen, oder wenn dies nicht möglich ist, den MitarbeiterInnen mehr Pausenzeiten zu gönnen.

 

Die Forderung nach „Entschleunigung unserer Zeit ist ein Modewort, dass nicht dazu führen sollte, dass Menschen dem Arbeitsprozess nach dem Muster des Romans von Graham Greene(2) entfliehen. Eine Flucht aus dem Arbeitsleben bedeutet stets auch eine Gesellschaftsflucht und die Flucht aus den in vielen Staaten vorhandenen Sozialsystemen. Beschleunigung ist die Änderung einer Geschwindigkeit pro Zeiteinheit. Zweifellos ist eine Beschleunigung vieler Tätigkeiten im Arbeitsleben nicht zu leugnen, sie könnte wie oben beschrieben wieder etwas gemäßigt werden. Wir sollten dabei jedoch nicht vergessen, dass wir unser Leben auch im privaten Bereich manchmal zu sehr beschleunigen. Zu ehrgeiziger Sport, Fernreisen, die wegen der Unannehmlichkeiten von Flugreisen und der Kürze solcher Reisen zur Anstrengung werden und unser oft kompliziertes Privatleben tragen wesentlich dazu bei, dass wir uns zunehmend überfordert fühlen.

 

Jede Zeit hat mit ihren spezifischen Problemen zu kämpfen, für die es meist Lösungen gibt – Flucht ist stets die schlechteste Lösung. Zeit ist immer Zeit, es hängt nur davon ab, wie sinnvoll sie ausgefüllt wird.

 


(1) Bücher:

 

Oliver Bidlo: Rastlose Zeiten. Die Beschleunigung des Alltags. Oldib Verlag, Essen 2009. ISBN 978-3-939556-13-8.

Klaus Backhaus/Holger Bonus (Hrsg.): Die Beschleunigungs-Falle oder der Triumph der Schildkröte. Schäffer-Poeschel, Stuttgart 1994. ISBN 3-7910-0877-3.

Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit, Roman; Piper, München 1983. ISBN 3-492-10700-1.

Fritz Reheis: Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus. München: Riemann 2003. ISBN 3-570-50049-7

Fritz Reheis: Die Kreativität der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung.

erw. Aufl. Primus, Darmstadt 1998. ISBN 3-89678-068-9.

Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005. ISBN 3-518-29360-5.

 

Es gibt aber auch bereits Bücher über den Vorteil des langsameren Essens.

 

(2) Roman von Graham Greene aus dem Jahr 1960 mit dem Titel „A Burn-Out Case“, in dem ein desillusionierter Architekt seinen Beruf aufgab, um anschließend im afrikanischen Dschungel zu leben.

 

(14.4.2012)

 

 

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