doremifasolasido – Was nicht in den Noten steht III

Solmisation - © Wikipedia. Public Domain

 

In einem früheren Beitrag wurden die Unwahrheiten des Tages und der Nacht angesprochen und (poetisch) versucht, anzudeuten, dass es im Leben keine Wahrheiten gibt. In den Kommentaren dazu kam es zu einer Diskussion über „Zwischentöne“, wie „Halbwahrheiten und Dämmerung“ bis hin zu existenzphilosophischen Gedanken.

 

Hier nun ein Beispiel aus der Musik wie frau/man sich mit „Zwischentönen“ (abseits vom existenzphilosophischen Sinnieren) mit Erfolg „durchmogeln“ kann, obwohl es auch hier keine „Wahrheiten“, allenfalls nur Gewohnheiten gibt, etwas „als richtig“ zu empfinden. Im nachfolgenden Beitrag wird auf ein tieferes Eindringen in das durchaus schwierige Gebiet der Musiktheorie verzichtet, weil in der Beitragsreihe „Was nicht in den Noten steht“ übergeordnete Gedanken im Vordergrund stehen sollen.

 

Einengung der Musik durch zu starre Regeln

 

Die meisten Musikliebhaber haben sich durch die Vorliebe für die „Klassik“ an Tonarten im Dur-Moll-Schema(3), an das Ablehnen von Dissonanzen und an den formalen Aufbau von Kompositionen so gewöhnt, dass sie sich sowohl mit der „Alten Musik“ als auch mit „zeitgenössischer“ Musik oft schwer tun. Sie brauchen die „Regeln der Harmonielehre“ (auch wenn sie die Regeln nicht kennen) um Musik genießen zu können. Oft hört man, dass “Musik melodisch und harmonisch sein soll” – obwohl gerade Melodie und Harmonie eigentlich eher „feindliche Brüder/Schwestern(?)“ sind. Sie sind deswegen feindliche Brüder/Schwestern, weil Melodie das „Hintereinander“ von Tönen, Harmonie jedoch den „Zusammenklang“ von Tönen bedeuten und weil es bei mehreren Stimmen nebeneinander leicht zu Dissonanzen kommen kann oder sogar muss, welche die Meister des Barock und der Klassik elegant zu umschiffen wussten. In der “Klassik” wurde die Zwangsjacke der Harmonik des Barock (u.a der basso continuo(1)) wieder zurückgedrängt, wodurch es mehr Spielraum für die melodische Gestaltung gab – insgesamt zeichnet sich die Klassik durch eine gewisse Ausgewogenheit aus, eine freie Entfaltung der Melodik war aber durch die Einhaltung der Harmonielehre relativ eingeschränkt. Wer sich einmal mit „Modulationstechniken“ beschäftigt hat, d.h. den kompositorischen Tricks, wie frau/man von einer Tonart in eine andere gelangen kann, ohne dass die ZuhörerInnen dies als Qual empfinden, weiß, wie kompliziert Regeln sein können, sie/er weiß aber auch, welche Einengung die Musik im Barock und in der Klassik erfahren hat.

 

Das war nicht immer so (z.B. im Mittelalter) und erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in der zeitgenössischen Musik wurde dies (ebenso im Jazz) wieder erkannt und versucht, sich dieser Einengung zu entziehen.

 

Guido von Arezzo (um 992 – 1020) hat als Erfinder unserer Notenschrift unter Verwendung eines Hymnus auf den Heiligen Johannes, zunächst 6 Töne ut (heute „do“), re, mi, fa, so, la zum erleichterten Lernen seiner Schüler die Anfangsbuchstaben dieses Hymnus gewählt:

 

Utqueant laxis
resonare fibris
mira gestorum
famuli tuorum
solve polluti
labii reatum Sancte Iohannes.

 

Guido von Arezzo verwendete also sechs diatonische(2) Töne (reine Quintenschritte, entsprechend dem pythagoreischen Tonsystem mit den Proportionen 2/3) – diese Methode wird als „Solmisation“ bezeichnet und führte zunächst zu der unbeschreiblichen Schönheit der Gregorianik.

Die mittelalterliche Musik beruhte somit nicht auf unserer heutigen Zwölftonskala und schon gar nicht auf der Festlegung auf Dur und Moll(4) bzw. jenen Tonarten, welche für die Musik ab dem Barock und ganz besonders für die Klassik so wichtig waren. Es wäre allerdings falsch anzunehmen, dass das Mittelalter diese Begriffe nicht kannte. In den sogenannten „Kirchentonarten“ (von denen man 8 alte und 4 neue unterscheidet) wird der Begriff Dur oder Moll relativiert, wodurch in der mittelalterlichen Musik erheblich mehr Spielraum für Improvisation möglich war als in der Barock- und klassischen Musik, und die erst im Jazz des 20. Jahrhunderts wieder entdeckt wurde. Die Kirchentonarten bestanden aus 7 Tönen und je nachdem, mit welchem Ton eine Melodie begann, ergaben sich völlig andere Klangeindrücke. Unsere Tonleitern bestehen bekanntlich aus Ganztonschritten und Halbtonschritten. Man kann sich die unterschiedlichen Kirchentonarten etwa so vorstellen, wie wenn man unsere 7 (bzw. 8) Töne folgendermaßen als Tonleitern verwenden würde: C,D,E,F,G,A,H,C oder D,E,F,G,A,H,C,D oder E,F,G,A,H,C,D,E etc. (also jeweils mit einem Ton höher beginnend). Alle diese Tonleitern würden ganz unterschiedlich klingen, weil die Abfolge von Ganzton- und Halbtonschritten unterschiedlich wäre.

 

In der Klassik war man so auf die Hörgewohnheit von Dur und Moll fixiert, dass dadurch im Extremfall die Vorstellung entstand, Moll wäre eine „traurige“ bzw. Dur eine eher „fröhliche Tonart, obwohl (oder gerade weil) sich beide Tonarten nur dadurch unterscheiden, dass die Moll-Tonfolge mit C,D,Es…und die Dur-Tonfolge mit C,D,E… beginnt. Da die Klassik zusätzliche formale Vorgaben einführte, dass z.B. eine Sonate oder ein Konzert aus 3 Sätzen, ein Streichquartett oder eine Sinfonie jedoch aus 4 Sätzen (von Ausnahmen abgesehen) bestehen müsse und die einzelnen Sätze ihrerseits wieder einen formalen Aufbau hatten, war es fast selbstverständlich, dass sich die Komponisten irgendwann einmal gegen diese strengen Vorgaben wehren würden. Hier war Arnold Schönberg als Begründer der „Zwölftonmusik“ gleichzeitig ein Mitbegründer eines neuen Abschnittes der Musikgeschichte, der obwohl er als Befreiungsschlag gedacht war, sich neuen Regeln unterwarf, die eigentlich bekämpft werden sollten und deswegen schließlich in „Langweiligkeit“ ausarteten.

 

Anm.: Zwölftonmusik ist kein Musikstil, sondern eine Kompositionsmethode.

Heute, nach dem auch die sogenannte „moderne“ Musik (spätestens ab den 60iger Jahren) langweilig wurde, löst man sich wieder von den strengen Vorgaben der Zwölfton- oder seriellen Musik. Neue, zeitgenössische Kompositionen versuchen eine Synthese mit früheren Musikstilen oder Kompositionstechniken, die durchaus „interessant“ klingen.

 

Der Autor dieses Beitrags, der sich als Naturwissenschaftler auch aktiv mit Musik beschäftigte, hat im Prinzip keine Präferenz für Musikformen einzelner Epochen. Die sogenannte „Alte Musik“ – wobei erst zu klären wäre, was man darunter verstehen will (denn heute ist auch Mozart “alte Musik”), bildet mit ihren Überraschungen und Schätzen, die noch nicht gehoben sind, einen besonders reizvollen Zugang zur Musik – ebenso wie guter Jazz – den man im Gegensatz zur Popmusik – auch erst „entdecken“ muss. Wie in einem der beiden früheren Beiträge „Was nicht in den Noten steht…“ bereits erwähnt wurde, gibt es im Jazz durch sogenannte „Blue Notes“ – eine Methodik, bei der ein Solist (meist Blechbläser) beispielsweise die Unterschiede zwischen den durch unser Klavier als gleich empfundenen Tönen „gis“ und „as“ so zu umspielen – wieder die Möglichkeit, das strenge Regelwerk des Dur-Moll Schemas zu verlassen und dadurch wieder jene Freiheit der Improvisation(4) neu zu entdecken, die es seit dem Mittelalter nur mehr sehr eingeschränkt gab.


(1)  Unter „basso continuo“ (Bc) oder Generalbass wird eine Basslinie der tiefsten Instrumente in Verbindung zur Melodie und mit den dazu passenden Akkorden verstanden. Die Bassnoten wurden nicht ausgeschrieben, sondern als Ziffern über oder unter den Noten gesetzt. Die Realisierung der Akkorde war dem Spieler überlassen und oft improvisiert. In modernen Notenausgaben wird eine mögliche Realisierung der Akkorde oft vom Herausgeber in Notenschrift angegeben, weil Musiker unserer Zeit mit der Realisierung nicht so vertraut sind. Ein Jazz-Bassist ist mit der Begleitung und der Improvisation zum Thema dagegen immer vertraut.

 

(2) Unter Diatonik wird im Gegensatz zur Chromatik (Einteilung einer Oktave in zwölf Halbtonschritte) ein siebenschrittiger Verlauf einer Oktave verstanden. Zur chromatischen Tonleiter gelangt man, wenn die Stammtöne mithilfe von Versetzungszeichen (♯oder ♭) verändert werden.

 

(3) Die Dur-Tonleiter (dur=hart) besteht aus 2 Ganztonschritten, einem Halbtonschritt, 3 Ganztonschritten und einem weiteren Halbtonschritt. Bei der Moll-Tonleiter folgt nach dem ersten Ganztonschritt ein Halbtonschritt (kleine statt große Terz), weiter Verlauf wie in der Durtonleiter. Bei Moll (moll=weich) gäbe es mindestens 4 Moll-Tonleitern, von denen heute fast ausschließlich die „natürliche“ oder reine Molltonleiter verwendet wird. Diese ab dem 16. Jahrhundert fast ausschließlich verwendete Tonleiter enthält Halbtonschritte zwischen der zweiten und dritten und zwischen der fünften und sechsten Stufe (z.B. a-moll: A, H, C, D, E, F, G, (A). Daneben gibt es andere Mollleitern mit unter schiedlichen Halbtonschritten z.B. harmonisches Moll, melodisches Moll und das Zigeunermoll. Bei der melodischen Molltonleiter müsste die Leiter nach oben oder unten gespielt eigentlich unterschiedlich gespielt werden, die Abwärtsbewegung ist jedoch in der „Akkord-Skalen-Theorie“ unbrauchbar und wird daher entsprechend der reinen (natürlichen Molltonleiter) gespielt. Im Jazz wird die “Melodisch Moll aufwärts” (MMA), oft verwendet. Die Variante der Zigeuner Molltonleiter wird in der Musik der Sinti und Roma, aber auch z. B. bei Franz Liszt (in den Ungarische Rhapsodien) verwendet. Sie ähnelt dem harmonischen Moll, jedoch mit erhöhter vierter Stufe.

 

(4) Die Freiheit der Improvisation war in der Klassik sehr eingeschränkt. Tonverzierungen, die in der Barockmusik noch relativ frei von den Solisten gespielt werden konnten, wurden in der Klassik vom Komponisten streng vorgechrieben und notiert. Die einzige Freiheit zu “improvisieren” gab es im letzten Takt eines Satzes in einem Solokonzert, in welchem SolistInnen erlaubt war, ihr Können durch eigene Improvisationen über Themen des vorangegangenen Satzes zu zeigen, bevor dann am Ende der “Kadenz” wieder das volle Orchester einsetzt. Unter Kadenz versteht man allerdings nicht nur diese oft viele Minuten dauernde Improvisation, sondern auch eine bestimmte Akkordfolge im letzten Takt, die zum Schluss führt. Heute wird auch diese Freiheit zum Teil wieder eingeschränkt, weil häufig nur bereits bekannte, notierte Kadenzen (anderer Komponisten) gespielt werden.



(08.09.2010, redigiert 31.1.2017) 

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