Riesige Margeriten – und: Ici pays ami

 

 

Margeriten - (c) Alfred Rhomberg

 

Anfang 1942 floh meine Mutter mit uns Kindern wegen der zunehmenden Luftangriffe aus Hannover für einige Monate nach Innsbruck – der Krieg würde ohnehin bald zu Ende sein. Österreich war zu dieser Zeit ein „heimgeholtes“, aber noch nicht allzu heimgesuchtes Land. Die Schönheit der schneebedeckten Berge im März und der strahlend blaue Himmel machten Tirol zu einem Paradies, das die Luftangriffe auf Hannover schnell vergessen ließ. Wir wohnten ein paar Wochen bei Verwandten meines Vaters mitten in der Stadt und dann – ebenfalls bei Verwandten – in Aldrans, einem damals noch nicht zersiedelten hübschen Dorf im südlichen Mittelgebirge oberhalb Innsbrucks. Es war die erste, von mir bewusst als schön empfundene Zeit meines Lebens. Zum ersten Mal sah ich Sterne und Sternbilder im klaren Nachthimmel und Wiesen mit riesigen Margeriten, die vermutlich deswegen so groß waren, weil ich selbst noch so klein war. Anfang September mussten wir dieses erste Paradies verlassen, ich sollte in Hannover eingeschult werden und da ich mich auf den Schulbeginn weder freute noch Angst davor hatte, nahm ich dies, weil ich kein Mitspracherecht hatte, als selbstverständliche Gegebenheit hin. Von nun an sah ich keine Sternbilder mehr am Himmel - nur noch Finger der Scheinwerfer, die den Nachthimmel zerschnitten um Bombenflugzeuge zu orten. Hätte ich die Schule in Tirol begonnen, was durchaus möglich gewesen wäre, hätte sich meine Mutter und uns Kindern die schlimmste Zeit unseres Lebens erspart - aber der Krieg würde ja bald zu Ende sein - meinte meine Mutter.

 

Reflexion 1: Ich habe mir abgewöhnt, Fragen nach dem Muster „was wäre, wenn gewesen“ zu stellen. Die Dinge verlaufen so, wie sie - vermutlich nach einem ungeordneten Plan verlaufen müssen – und selbst wenn sie von einer höheren Instanz geplant wären, müsste man sie akzeptieren. Die sechs schrecklichen folgenden Jahre meines Lebens waren wahrscheinlich notwendig, um die guten Jahre danach unter einem anderen Licht zu sehen – ich danke also allen ungeplanten oder geplanten Zufälligkeiten.

 

Reflexion 2:  Im September 1946 konnte ich nach einer sechswöchigen Odyssee aus der Hölle der russischen Besatzungszone, dem späteren Ostdeutschland, nach Innsbruck entfliehen. Es war das zweite Paradies meines Lebens. Auch in Tirol stand als französische Besatzungszone anfangs nicht alles zum Besten. Der Ausspruch „Ici pays ami“ (hier ist ein befreundetes Land) wurde in den ersten Besatzungswochen von der Bevölkerung in Tirol nicht so gesehen. Emile Bethouart, ein enger Vertrauter von Charles de Gaulle und Hochkommissar von Österreich und Oberbefehlshaber in Tirol gelang es, die Bevölkerung zu überzeugen und es kam zu einem hoffnungsvollen Wandel. Bereits vor Kriegsende hatte Bethouart eine Friedensvision entwickelt, in welcher Österreich als selbstbewusster Staat betrachtet wurde, der möglichst schnell vom Einfluss des Nazi-Deutschland gelöst werden sollte. Zu Recht ist später in Innsbruck ein Steg über den Inn nach seinem Namen benannt worden.

 

Reflexion 3: Auch in Österreich/ Tirol war die Versorgung der Bevölkerung anfangs schlecht. Das nur mit Rationskarten kaufbare Brot bestand aus Kartoffeln und wenig Mehl, das wichtigste Nahrungsmittel war Polenta (Mais). Speiseöl war nur in Form von Leinöl erhältlich, Fleisch gab es zunächst gar nicht, bis das erste fast ungenießbare Walfischfleisch auf den Markt kam. Wenige Monate später gab es dieses Fleisch als „hydrogenisiertes“ Produkt, das jetzt nach nichts mehr schmeckte. Schulkinder profitierten sowohl von Schweizer Spenden, als auch von „Care-Paketen“. Der wesentliche Unterschied zu der verlassenen Hölle der deutschen russischen Besatzungszone basierte in Tirol anfangs nur auf dem Prinzip „Hoffnung“, die sich bewahrheitete.

 

Reflexion 4: Die Schweiz hatte Österreich nicht nur nach dem zweiten Weltkrieg durch großzügige Spenden unterstützt (u.a. die Schulausspeisung, die nur versehentlich von einem Mitschüler in einem Aufsatz als "Schulausspeiung" bezeichnet wurde), die Schweiz hat ein ähnlich großzügiges Verhalten auch den Ungarnflüchtlingen nach dem Ungarnaufstand 1956 entgegengebracht. Das noch keinesfalls „reiche“, aber doch bereits etwas sanierte Österreich, hatte sich nach dem Vorbild der Schweiz ebenfalls für die Ungarnflüchtlinge besonders eingesetzt. Vorbilder scheinen Wirkung zu haben.


(2011)                                                                                 

 

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